Die Lage in der Rebellenhochburg Idlib in Syrien eskaliert. Unter syrischem Beschuss sterben zahlreiche türkische Soldaten. Die Türkei startet Vergeltungsangriffe und fordert Beistand der Nato.
Nach einem Luftangriff auf türkische Soldaten mit zahlreichen Toten in der nordsyrischen Provinz Idlib hat Ankara Beistand von Nato und der internationalen Gemeinschaft gefordert. Als Vergeltung griff die Türkei in der Nacht zu Freitag Stellungen der syrischen Regierungstruppen an, wie der türkische Kommunikationsdirektor, Fahrettin Altun, mitteilte. «Wir rufen die gesamte internationale Gesellschaft dazu auf, ihre Pflichten zu erfüllen», hiess es darin.
Der Sprecher der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP, Ömer Celik, forderte, die Nato müsse an der Seite der Türkei stehen. Gleichzeitig drohte er kaum verhohlen damit, syrischen Flüchtlingen im Land die Grenzen in Richtung Europa zu öffnen: «Unsere Flüchtlingspolitik bleibt dieselbe, aber hier haben wir eine Situation. Wir können die Flüchtlinge nicht mehr halten», sagte er.
29 türkische Soldaten getötet
Am Donnerstagabend waren bei einem Luftangriff in Idlib mindestens 29 türkische Soldaten getötet und 36 weitere verletzt worden. Ankara machte die syrische Regierung verantwortlich und startete Vergeltungsangriffe. Altun teilte mit, die Türkei greife als Reaktion mit Boden- und Luftkräften «alle bekannten Ziele des Regimes» an. Auf einem Sicherheitsgipfel am späten Donnerstagabend unter der Führung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan sei beschlossen worden, dass «das illegitime Regime, das die Waffenläufe» auf die Soldaten gerichtet habe, auf «gleiche Weise» angegriffen werde, teilte Altun mit.
Nach Angaben von Anadolu telefonierte der türkische Aussenminister Mevlüt Cavusoglu mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Stoltenberg verurteilte nach Angaben einer Sprecherin in dem Telefonat die «rücksichtslosen» Luftangriffe durch die syrischen Regierungstruppen und die mit ihnen verbündeten russischen Verbände. Der Nato-Generalsekretär rief die Konfliktparteien in Nordwestsyrien auf, die gefährliche Lage zu entschärfen und eine weitere Verschlimmerung der schrecklichen humanitären Situation in der Region zu vermeiden.
Uno fordert sofortige Waffenruhe
Uno-Sprecher Stéphane Dujarric warnte vor der Gefahr, dass der Konflikt in Nordwestsyrien «Stunde für Stunde» weiter eskalieren könne. Er rief die Konfliktparteien zu einer «sofortigen Waffenruhe» auf.
Der einflussreiche US-Senator Lindsey Graham forderte angesichts der Eskalation eine Flugverbotszone in Idlib. Graham richtete seinen Aufruf am Donnerstag an die Adresse von US-Präsident Donald Trump: «Es ist jetzt an der Zeit, dass die Internationale Gemeinschaft eine Flugverbotszone einrichtet, um Tausende unschuldige Männer, Frauen und Kinder vor einem schrecklichen Tod zu retten.»
Idlib ist das letzte grosse Rebellengebiet in dem Bürgerkriegsland. Die Situation dort war jüngst eskaliert. Die Türkei unterstützt in dem Konflikt islamistische Rebellen. Mit Russland als Schutzmacht der syrischen Regierung hatte sie ein Abkommen getroffen, um in Idlib eine Deeskalationszone einzurichten und hatte dort Beobachtungsposten eingerichtet. Eigentlich gilt auch eine Waffenruhe. In den vergangenen Wochen war das syrische Militär mit russischer Unterstützung aber weiter in dem Gebiet vorgerückt.
Hunderttausende auf Flucht
Erdogan hat wiederholt mit einem Militäreinsatz gedroht, sollte sich das syrische Militär in Idlib nicht bis Ende Februar zurückziehen. Hunderttausende sind vor der Gewalt auf der Flucht.
Nach Uno-Angaben sind seit Anfang Dezember fast 950'000 Menschen vor der Gewalt geflohen, auch in Richtung türkischer Grenze. Helfer beklagen eine katastrophale humanitäre Lage. Es fehlt an Unterkünften, Lebensmitteln, Heizmaterial und medizinischer Versorgung. Hilfsorganisationen sprechen vom schlimmsten Flüchtlingsdrama seit Ausbruch des Bürgerkriegs vor fast neun Jahren.
Die Türkei hat bereits mehr als 3,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen und betont immer wieder, dass sie eine neue Migrationswelle nicht hinnehmen werde.
Bei Zusammenstössen zwischen syrischem und türkischem Militär waren bis zum Donnerstagmorgen in rund einem Monat bereits rund 20 türkische Soldaten in der Region getötet worden.
Vorgehen als Kriegsverbrechen gebrandmarkt
Angesichts der Eskalation hatte der deutsche Aussenminister Heiko Maas zuvor das Vorgehen der syrischen Armee und Russlands als Kriegsverbrechen gebrandmarkt. «Als Konfliktparteien stehen sie in der Pflicht, die Zivilbevölkerung zu schützen. Stattdessen bombardieren sie zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser und Schulen», sagte Maas am Donnerstag vor dem UN-Sicherheitsrat. «Massnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus sprechen niemanden von der Einhaltung des humanitären Völkerrechts frei.» Vor der Sitzung hatte der SPD-Politiker im ARD-«Mittagsmagazin» erneut eine sofortige Waffenruhe gefordert.
Mit den jüngsten Todesopfern sind in diesem Monat den türkischen Angaben zufolge mindestens 53 türkische Soldaten in Syrien getötet worden. Die Türkei hat im Rahmen eines im Jahr 2018 geschlossenen Abkommens mit Russland zwölf militärische Beobachtungsposten in der Provinz Idlib.
Frist bis Monatsende
Erdogan hatte die Regierung in Damaskus wiederholt aufgefordert, ihre Truppen aus dem Umfeld der türkischen Posten abzuziehen. Der türkische Staatschef setzte dafür eine Frist bis Monatsende, also bis diesen Samstag.
In Idlib und benachbarten Provinzen im Nordwesten Syriens geht die syrische Armee seit Dezember mit militärischer Unterstützung Russlands verstärkt gegen islamistische und dschihadistische Milizen vor. Assad will die letzte Milizen-Hochburg im Land wieder unter seine Kontrolle bringen. Ein Teil der Rebellengruppen in Idlib wird von der Türkei unterstützt.
Im Zuge der Offensive war es der syrischen Regierungsarmee in den vergangenen Wochen gelungen, mehrere Ortschaften in Idlib unter Kontrolle zu bringen. Von der Türkei unterstützte Milizen eroberten am Donnerstag jedoch die strategisch wichtige Stadt Sarakeb zurück.
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