Closeup US-Wahlen Überraschungen im Oktober nicht ausgeschlossen

Von Helene Laube

3.10.2020

Ein Ereignis kurz vor dem Wahltag, das den Kampf um das Weisse Haus dramatisch verändern kann: Die «October Surprise» hat Tradition bei US-Präsidentschaftswahlen. Aber was ist dran?

Alle vier Jahre spekuliert Amerika über ein unvorhersehbares Ereignis, das den Wahlkampf im Endspurt nochmals umkrempelt: Dieses Geschehnis kann von einem der Kandidaten bewusst herbeigeführt werden, ein Terroranschlag oder ein Naturereignis sein – aber es packt die Wählenden politisch und emotional und könnte dem Rennen ums Weisse Haus kurz vor der Ziellinie eine Wende geben. Im Politsprech Washingtons ist das eine «October Surprise».

Im Fokus: US-Wahlen 2020

Amerika wählt: «blue News» begleitet die heisse Phase des Duells um das Weisse Haus nicht nur mit dem Blick aus der Schweiz, sondern auch mit Berichten von Schweizer Journalisten, die in den USA leben. Trump oder Biden? Am 3. November wird gewählt. Nicht nur der Präsident, sondern auch 35 Senatssitze, das komplette Repräsentantenhaus sowie elf Gouverneure werden neu gewählt.

Politische Kommentatoren diskutieren seit geraumer Zeit, was in diesem chaotischen Wahljahr wohl die «October Surprise» sein würde. 32 Tage vor der Wahl am 3. November ist sie hier: Donald Trump und seine Frau Melania haben sich mit dem Coronavirus infiziert.

Der US-Präsident setzte die dramatische Nachricht kurz vor 1 Uhr am Freitagmorgen via Twitter ab. Wirklich überraschend ist der positive Test nach den vielen Wahlkampf- und anderen -auftritten des Maskenverweigerers und Coronaverharmlosers Trump nicht.

Dennoch: Die Nachricht, dass Trump positiv auf SARS-CoV-2 getestet wurde, stellt das Rennen um die Präsidentschaft auf den Kopf und wirft Fragen auf, etwa: Wer in wichtigen Regierungspositionen hat sich sonst noch infiziert? Und was passiert, sollten die angeblich erst leichten Symptome des Präsidenten in einen schweren Krankheitsverlauf münden?

Es könnte ein politisches Desaster für Trump sein: Dass er jetzt selbst am Virus erkrankt ist, erinnert die Wählerschaft aufs Neue daran, dass der Präsident trotz der fast 208'000 Coronaopfer und der knapp 7,3 Millionen Infizierten in Amerika und der eingebrochenen Wirtschaft die Pandemie seit Monaten herunterspielt und damit das Leben der Bevölkerung – und sein eigenes – aufs Spiel setzt.

Die Nachricht, dass die mächtigste Person der Welt nicht sicher ist vor dem Virus schlug weltweit wie eine Bombe ein. Sie stellt die Skandale und Überraschungen anderer Wahljahre in der jüngeren Vergangenheit in den Schatten.



Pussy-Video und E-Mail-Server-Affäre

Im Wahlkampf 2016 war es ein vier Wochen vor dem Wahltag veröffentlichtes Video mit vulgären Äusserungen des republikanischen Kandidaten Donald Trump über Frauen («Grab them by the pussy»). Oder die Bekanntgabe am 27. Oktober, dass das FBI weitere Ermittlungen in der Affäre um E-Mails und einen privaten Server aufnehme, die Hillary Clinton damals belastete. Nur wenige Tage später gab das FBI bekannt, dass auch die neuen Nachrichten keinen Anlass böten, um ein Strafverfahren gegen Clinton einzuleiten.

US-Präsident Donald Trump und First Lady Melania Trump am 29. September 2020 in Cleveland nach der ersten – und womöglich letzten – Debatte gegen den demokratischen Herausforderer Joe Biden im Rennen um das Weisse Haus. Es ist unklar, ob die Trumps zu diesem Zeitpunkt bereits mit dem Coronavirus infiziert waren.
US-Präsident Donald Trump und First Lady Melania Trump am 29. September 2020 in Cleveland nach der ersten – und womöglich letzten – Debatte gegen den demokratischen Herausforderer Joe Biden im Rennen um das Weisse Haus. Es ist unklar, ob die Trumps zu diesem Zeitpunkt bereits mit dem Coronavirus infiziert waren.
Bild: Keystone/AP Photo/Julio Cortez, File

Trump schadete die Veröffentlichung des «Pussy»-Videos, wie unzählige andere Skandale, nicht. Doch so mancher ist überzeugt, dass die FBI-Ankündigung Clinton den Sieg kostete.

Auch dieses Jahr fehlte es noch vor der Verkündung von Trumps Coronainfektion nicht an potenziellen «October Surprises». Im September kamen die Recherche zum Ausmass der trumpschen Steuerakrobatik und die Nachricht vom Tod der Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg

Ein besseres Thema zur Mobilisierung der Parteibasis als ein Streit mit den Demokraten um einen Richterposten am Obersten Gerichtshof der USA hätten Trump und die Republikaner aber kaum finden können. Sie werden die Anhörungen und die Wahl im Senat der von Trump nominierten, konservativen Richterin Amy Coney Barrett noch vor den Präsidentschafts- und Kongresswahlen am 3. November durchdrücken. Zu verlockend ist die Aussicht, den konservativen Richterflügel auf absehbare Zeit auf sechs Stimmen zu vergrössern.

Die Entscheidung, nicht bis nach der Wahl mit der Neubesetzung zu warten, dürfte auch demokratisch Wählende mobilisieren. Wie stark sich der Tod von Bader Ginsburg und das Drama um die umstrittene Nachfolgebesetzung auf die Wählenden auswirken, bleibt abzuwarten.



«October Surprise» – republikanische Wortschöpfung

Der Ausdruck «October Surprise» wurde während des Präsidentschaftswahlkampfs 1980 – der im Zeichen der Geiselnahme in Teheran stand – von Ronald Reagans Wahlkampfmanager und späterem CIA-Direktor William Casey geprägt. Das Drama, das sich vom 4. November 1979 bis zum 20. Januar 1981 in der US-Botschaft in Teheran abspielte, belastete die Präsidentschaft des Demokraten Jimmy Carter – und seine Wiederwahl. Als die iranischen Studenten die restlichen 52 amerikanischen Geiseln am Tag von Reagans Vereidigung im Januar 1981 freiliessen, wurden Vermutungen laut, dass sein Wahlkampfteam Teheran dazu gebracht habe, die Freilassung bis nach der Wahl im November 1980 hinauszuzögern.

Genau dieses Szenario – die Berufung einer Nachfolgerin durch Donald Trump und die Republikaner vor der Vereidigung des neuen Präsidenten im Januar 2021 – wollte Ruth Bader Ginsburg verhindern. Ihr grösster Wunsch sei es, «nicht ersetzt zu werden, bevor ein neuer Präsident im Amt ist», soll die Verfassungsrichterin auf dem Sterbebett ihrer Enkelin in den Block diktiert haben.
Genau dieses Szenario – die Berufung einer Nachfolgerin durch Donald Trump und die Republikaner vor der Vereidigung des neuen Präsidenten im Januar 2021 – wollte Ruth Bader Ginsburg verhindern. Ihr grösster Wunsch sei es, «nicht ersetzt zu werden, bevor ein neuer Präsident im Amt ist», soll die Verfassungsrichterin auf dem Sterbebett ihrer Enkelin in den Block diktiert haben.
Bild: Keystone/ EPA/Shawn Thew

Zwei Untersuchungen des Kongresses kamen zum Schluss, dass Reagans Wahlkampfteam keine geheime Abmachung mit Teheran ausgehandelt hatte. Allerdings soll das Reagan-Lager hinter den Kulissen durchaus versucht haben, das Geiseldrama wahlkampfpolitisch auszunutzen.

Einflussreiche Republikaner sollen einem im Dezember 2019 erschienenen Bericht der «New York Times» zufolge eng mit Reagans Wahlkampfteam kooperiert haben, das bemüht war, die Freilassung der Geiseln vor der Wahl zu verhindern.

Die letztlich gescheiterten Freilassungsbemühungen der Carter-Regierung nannten die Republikaner abschätzig eine «October Surprise». Sie verbreiteten Gerüchte über mögliche Lösegeldzahlungen als Gegenleistung für die Freilassung der Geiseln, was laut Vertretern der Carter-Regierung die Verhandlungen über die Geiselbefreiung behindert haben soll. Der auch wegen eines schweren Abschwungs der US-Wirtschaft angeschlagene Carter erlitt am 4. November 1980 eine herbe Niederlage gegen Reagan.

Oktober-Überraschungen gab es in der amerikanischen Politik schon in den Jahrzehnten und Jahrhunderten davor, nur hatten sie keinen Namen. Manchmal, aber nicht immer, werden die Entgleisungen, Misserfolge und Desaster von den politischen Gegnern lanciert. Manchmal, aber nicht immer, sind sie von Erfolg gekrönt. So oder so sind sie fester Bestandteil der Präsidentschaftswahlkämpfe in den Vereinigten Staaten – und anderswo.


Helene Laube ist Journalistin in San Francisco. Von 2000 bis zum Ende der «Financial Times Deutschland» im Dezember 2012 war sie Silicon-Valley-Korrespondentin der Wirtschaftszeitung. Sie ist Gründungsmitglied der FTD. Davor war sie Redakteurin beim «Manager Magazin» in Hamburg. Ihre Artikel erschienen zudem in Medien wie «Financial Times», «Spiegel», «Los Angeles Times», «Zeit», «Stern», «Neue Zürcher Zeitung» und «brand eins».

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