Evakuierung aus Mariupol «Für die Notdurft darf man nicht zu weit ins Gebüsch»

Von Andreas Fischer

12.5.2022

Nachdem sie wochenlang im belagerten Azovstal-Werk in Mariupol ausharrten, konnten zuletzt viele Zivilisten gerettet werden. Ein Rotkreuz-Mitarbeiter berichtet von den Herausforderungen der Evakuierung.

Von Andreas Fischer

Noch immer haben sich ukrainische Truppen im Stahlwerk von Mariupol verschanzt. In den vergangenen Tagen wurden von dort mehrere Hundert Frauen, Kinder und ältere Menschen evakuiert. Mitgeholfen haben bei der Aktion die Vereinten Nationen und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) mit Sitz in Genf. blue News hat mit Christoph Hanger, der für das IKRK vor Ort in der Ukraine arbeitet, über Herausforderungen, Erfahrung und einen kleinen Funken Hoffnung gesprochen.

Zur Person: Christoph Hanger
zVg / IKRK

Christoph Hanger arbeitet für das Internationale Rote Kreuz in der Ukraine. Der Mediensprecher steht in ständigem Kontakt mit den Evakuierungsteams.

Wie wird eine Evakuierung organisiert?

Generell steht das IKRK im ständigen Dialog mit allen Konfliktparteien. Nur so können sichere Evakuierungskorridore überhaupt geschaffen werden. Es erfordert sehr viele Verhandlungen, bevor sich ein Konvoi in Bewegung setzen kann. Wichtig ist, dass sich die Konfliktparteien einigen: Uns kommt dabei vor allem eine vermittelnde Rolle zu. Zum anderen sorgen wir für einen reibungslosen logistischen Ablauf.

Vor welchen Herausforderungen stehen Sie dabei?

Die Verhandlungen werden auf höherer Ebene geführt, die Ergebnisse müssen aber auch bei den Soldaten an den Checkpoints ankommen, um die Sicherheit der Zivilisten und unserer Leute zu gewährleisten. Details sind wichtig, damit die praktische Umsetzung funktioniert. Das heisst die Route, der Ort, welche und wie viel Menschen evakuiert werden – all das wird vorher detailliert abgesprochen.

Eine Evakuierung ist eine Operation, bei der wir für alles gewappnet sein müssen. Wir müssen genug Essen dabei haben, falls der Konvoi länger benötigt als vorgesehen. Wir müssen genug Verbandsmaterial dabei haben für die Verletzten. Wir brauchen zusätzliches Benzin. Es ist ein beschwerlicher Weg, der teilweise mehrere Tage dauert.

Ein praktisches Beispiel: Um die Notdurft zu verrichten, darf man nicht zu weit ins Gebüsch gehen. Im Konfliktgebiet können überall Minen liegen. Das sind alles Gefahren, auf die unsere Spezialisten vorbereitet sein müssen.

Wie hat sich die humanitäre Lage in der Ukraine im Laufe der Zeit entwickelt?

Es sind leichte Fortschritte zu erkennen. Vor ein paar Wochen haben wir erstmals Menschen aus Sumy im Nordosten der Ukraine evakuiert. Dann konnten wir Menschen evakuieren, die es selbst aus Mariupol herausgeschafft hatten.

Nach Mariupol direkt sind wir lange Zeit nicht gekommen, nur bis auf 20 Kilometer an die Stadt heran. Aber vergangene Woche haben wir es dreimal geschafft, nach Mariupol zu gelangen. Das ist eine stetige Verbesserung und für uns ein Grund zur Hoffnung, dass wir mehr leisten können in Zukunft – egal, wo die Menschen vom Konflikt eingeschlossen sind.

Ist es eine generelle Tendenz in diesem Krieg, dass nun mehr humanitäre Hilfe ermöglicht wird?

Es ist zumindest ein Erfolg für alle beteiligten Parteien. Man sieht, dass sichere Evakuierungen möglich sind, und das kann man durchaus als vertrauensbildende Massnahme interpretieren. Wir hoffen, dass es in Zukunft mehr Möglichkeiten für humanitäre Hilfe gibt. Wir müssen als Rotes Kreuz immer hoffen.

Werden die Sicherheitsgarantien eingehalten?

Wir operieren in einem international bewaffneten Konflikt: Uns ist bewusst, dass die Kämpfe andauern und intensiv geführt werden, wenn wir die Menschen evakuieren. Hundertprozentig sicher kann es also nicht sein. Unsere Teams können aber versuchen, die Risiken zu minimieren. Das hat bislang gut funktioniert, wie auch die vergangenen drei Evakuierungen aus Mariupol gezeigt haben. Das ist, wie gesagt, ein gutes Beispiel dafür, was möglich ist: Nachdem in der Stadt lange Zeit überhaupt keine humanitäre Hilfe geleistet werden konnte, haben wir es geschafft, Menschen zu evakuieren. Das ist ein erster Erfolg und eine grosse Erleichterung für die Menschen, die aus dem Azovstal-Stahlwerk herausgekommen sind.

Wie haben die geretteten Menschen reagiert?

Die Menschen hatten wochenlang das Tageslicht nicht gesehen. Es war eine schwangere Frau dabei, ein Mann mit gebrochenem Arm. Sie wussten nicht, was um sie herum passiert. Sie haben im Azovstal-Werk nur die Kampfgeräusche gehört. Bei der ersten Evakuierung war ein Priester vor Ort, bei dem viele Menschen Beistand suchten.

Bei der dritten Evakuierung waren viele Mitarbeiterinnen des Stahlwerks dabei. Bevor sie in die Busse einstiegen, legten sie ihre Schutzhelme auf dem Gelände ab. Im Prinzip haben sie ihre Vergangenheit dort gelassen: Sie wussten, dass ein Teil ihres Lebens vorbei ist. Für die Menschen wird es schwer, in der Zukunft neu starten zu können.