Türken in Deutschland: «Erdogan hat die Wiederwahl verdient»
Auch in Deutschland hat Präsident Erdogan eine starke Basis, die ihn ungeachtet der Wirtschaftskrise und seines Umgangs mit den Erdbeben im Februar weiterhin als Staatsoberhaupt wählen würde.
24.05.2023
Erdogan geht als klarer Favorit in die Präsidentschaftsstichwahl am Sonntag. Dabei sind die Verhältnisse im Land wirtschaftlich alles andere als gut. Was finden die Wähler an ihm – und schon so viele Jahre lang?
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
- In der Stichwahl vom 28. Mai hat der amtierende Präsident, Recep Tayyip Erdogan die besseren Karten als ein verbliebender Herausforderer Kilicdaroglu.
- Die Gründe dafür sind vielfältig. Vor allem halten viele den seit 20 Jaren regierenden Erdogan für den Einzigen, der die Türkei führen kann.
- Für die schwere Wirtschaftskrise, in der die Türkei steckt und das zögerliche Nothilfe nach den Erdbeben machen die Anhänger Erdogans ihr Idol nicht verantwortlich.
- Die Resultate des ersten Wahlgangs zeigen jedoch auch, dass über 40 Prozent der Wahlberechtigten den Herausforderer Kilicdaroglu vorziehen.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat in seinen bislang 20 Jahren an der Macht eine Reihe von Problemen überwunden: politische Krisen, Massenproteste, Korruptionsvorwürfe, einen Militärputschversuch und einen starken Zustrom von Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien. Jetzt sind Land und Leute mit einer extrem hohen Inflation konfrontiert, und viele Menschen leiden noch schwer unter den Folgen des verheerenden Erdbebens im Februar, verschlimmert durch eine langsame Reaktion der Regierung in Ankara.
Dennoch geht Erdogan, ein Populist mit zunehmend autoritärem Stil, als starker Favorit in die Stichwahl zur Präsidentschaft am kommenden Sonntag gegen Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, nachdem er die für einen Sieg nötige absolute Mehrheit in der ersten Runde nur knapp verpasst hatte. Wie lassen sich seine politische Langlebigkeit und Anziehungskraft trotz der derzeitigen Schwierigkeiten erklären?
Erdogan erfreut sich einer starken Loyalität konservativer und religiöser Anhänger, die er durch die Betonung islamischer Werte kultiviert hat – in einem Land, das fast ein Jahrhundert lang säkular geprägt war. Der 69-Jährige hat zudem seine Macht gefestigt, indem er Regierungsressourcen zu seinem politischen Vorteil einsetzte. Er steckt mit Blick auf die Wähler grosszügig Staatsgelder in Infrastruktur und übt eine strikte Kontrolle über die Medien aus.
Erdogan hat bewiesen, dass er die Türkei führen kann
Viele Türken mögen auch die Art und Weise, wie Erdogan auf der Weltbühne manövriert, etwa im Umgang mit dem Osten und Westen, und so zeigt, dass sein Land eine unabhängige Ader hat. Kommt dazu: Seine Popularität trotz wirtschaftlicher Krise scheint auch schlicht aus seinem Durchhaltevermögen zu resultieren. Viele Menschen wollen offenbar Stabilität und nicht mehr Wandel, wie Wählerbefragungen und Analysen besagen.
«In Zeiten nationaler Krisen wie dieser scharen sich Leute gewöhnlich um die Führungsperson», meint Expertin Gönül Tol vom Middle East Institute in Washington. «Die Wähler haben nicht genügend Vertrauen in die Fähigkeit der Opposition, Dinge in Ordnung zu bringen.»
Erdogan ist bereits der bislang am längsten dienende Präsident der Türkei, und seine Herrschaft geht in ein drittes Jahrzehnt, bis 2028, wenn er bei der Stichwahl eine Mehrheit der Stimmen erreicht. In der ersten Runde kam er auf 49,5 Prozent, 4,6 Prozentpunkte mehr als der Sozialdemokrat Kilicdaroglu, der die Hauptoppositionspartei des Landes seit 2010 leitet. Und am Montag gewann Erdogan die Unterstützung des in der ersten Runde drittplatzierten Rechtsaussen-Kandidaten – was seine Chancen am Sonntag weiter erhöht.
Erdogan macht die Türkei zum weltpolitischen Akteur
Kilicdaroglu, ein Volkswirtschaftler und früheres Parlamentsmitglied, ist der gemeinsame Bewerber einer Sechs-Parteien-Allianz. Er hat versprochen, im Fall seines Sieges Erdogans Wirtschaftspolitik zu beenden, die Experten zufolge Inflation geschürt hat. Ausserdem will er die Türkei nach den zunehmend autoritären Zügen des Präsidenten, so dessen Vorgehen gegen Kritiker, wieder demokratischer machen. Aber seine Botschaft kommt offenbar nicht breit genug an, um ihm eine Mehrheit einzubringen.
Viele Erdogan-Unterstützer sehen in ihrem Präsidenten anscheinend eine Führungsperson, die gezeigt habe, dass die Türkei ein grösserer Spieler in der Geopolitik sein kann. Das Land ist ein Schlüsselmitglied der Nato, auf Grund ihrer strategischen Lage an der Kreuzung zwischen Europa und Asien, und es besitzt die zweitgrössten Streitkräfte des Bündnisses. Unter Erdogan hat sich die Türkei als ein unverzichtbarer und bisweilen für Ärger sorgender Nato-Partner erwiesen. Sie blockierte Schwedens Beitritt zur Allianz und kaufte russische Raketenabwehrsysteme.
Die hohe Zahl ankommender Flüchtlinge aus dem benachbarten Syrien setzte Erdogan als politisches Druckmittel gegen europäische Länder ein, indem er drohte, diese mit Migranten zu überfluten. Andererseits spielte die Türkei zusammen mit der UNO eine Schlüsselrolle beim Zustandekommen einer Vereinbarung zwischen der Ukraine und Russland, die ukrainische Getreidelieferungen durch das Schwarze Meer ermöglichte.
Wirtschaftskrise und Erdbeben schaden ihm nicht genug
In seinem Wahlkampf hat Erdogan den türkischen militärisch-industriellen Sektor hervorgehoben, mit im Land hergestellten Waffensystemen geprahlt. Zugleich hat er die Befugnisse des einst stark säkularen Militärs beschnitten und Regeln aufgehoben, die konservativen Frauen das Tragen von Kopftüchern in Schulen und Regierungsbüros verboten – womit er darauf abzielte, den Islam eine stärkere gesellschaftliche Rolle zu geben und konservative Wähler zu gewinnen.
Die grösste Herausforderung für Erdogan ist die Wirtschaft. Auf die schwindende Kaufkraft der Familien hat er bislang hauptsächlich mit hohen Regierungsausgaben geantwortet, was Experten zufolge zusammen mit Zinssenkungen die Inflation nur noch weiter verschlimmert hat. Erdogan hat die Gehälter im öffentlichen Sektor sowie Renten erhöht und Millionen Menschen einen frühzeitigen Ruhestand erlaubt. Er hat ausserdem versprochen, auszugeben, was immer auch nötig sei, um die vom Erdbeben verwüsteten Gebiete wiederaufzubauen.
Tatsächlich hat seine Partei in den 10 der 11 Provinzen gewonnen, die von der Katastrophe betroffen waren – trotz Kritik, dass die Regierung zu langsam auf das Unglück reagiert habe.
Die Parlamentswahl hat Erdogans Partei schon gewonnen
Mustafa Ozturk, ein Erdogan-Anhänger in Ankara, räumt ein, dass sich sein Lebensstandard wegen der Inflation verschlechtert habe. Aber er weist darauf hin, dass auch andere Länder mit massiven Preisanstiegen zu tun hätten. «Es ist nicht Erdogans Schuld», sagt Ozturk – und dass er niemals gegen ihn stimmen würde, sich Erdogan «verpflichtet» fühle, weil dieser dem Islam einen grösseren Stellenwert in der Gesellschaft verschafft habe.
Erdogans Botschaft – und Macht – wird durch seine Kontrolle über die Medien verstärkt. Wie sehr der Präsident sie im Griff hat, zeigt sich beispielsweise darin, dass ihm der staatseigene Fernsehkanal TRT Haber seit dem 1. April 2023 mehr als 48 Stunden Sendezeit widmete, Kilicdaroglu dagegen nur 32 Minuten, wie der Medienbeobachter Ilhan Tasci sagte.
Parallel zur ersten Runde am 14. Mai fanden Parlamentswahlen statt, bei denen Erdogans Allianz nationalistischer und islamischer Parteien eine Mehrheit der 600 Sitze errang. Auch das gibt ihm Analysten zufolge einen Vorteil bei der Stichwahl. «Das Parlament ist überwältigend auf unserer Seite», so Erdogan kürzlich. «Wenn es eine stabile Regierung gibt, wird es Frieden und Wohlstand im Land geben.»