Fragen und Antworten Wird Spanien das neue Italien? Die Fluchtrouten verlagern sich

dpa

6.8.2018

Immer mehr Flüchtlinge und andere Migranten kommen in Andalusien statt Sizilien an - die Flüchtlingsrouten im Mittelmeer scheinen nach Westen zu wandern. Doch so einfach ist es nicht.

Die Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerkes UNHCR scheinen eine kleine Wende im Mittelmeer zu markieren. Erstmals seit Beginn der Flüchtlingskrise 2015 landeten mehr Flüchtlinge und andere Migranten in Spanien an als in Italien. Über die zentrale Mittelmeerroute - insbesondere von Libyen nach Italien - erreichten seit Jahresbeginn 2018 rund 18'500 Menschen Europa. An der spanischen Küste waren es rund 23'500. Was hat sich an der Lage im Mittelmeer geändert:

Warum ist das Mittelmeer nach Angaben des UNHCR die weltweit tödlichste Seeroute?

Mehr als 1500 Migranten sind seit Jahresbeginn im Mittelmeer ertrunken. Die UN-Organisation spricht von alarmierenden Zahlen, weil es immer mehr Todesopfer gibt, aber zugleich immer weniger Menschen in Europa ankommen. Das UNHCR macht Menschenschmuggler für die Toten verantwortlich, weil sie immer gefährlichere Überfahrten in immer weniger seetauglichen Booten organisieren. Auf diesen würden viel zu viele Menschen in der Hoffnung untergebracht, dass rechtzeitig Hilfe eintrifft. Die Flüchtlingsorganisation fordert, dass die Schmugglernetzwerke zerschlagen werden.

Wer sind die Menschen, die in Spanien ankommen?

Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) stammt der Grossteil aus afrikanischen Krisenländern südlich der Sahara sowie aus Marokko, Mali und Mauretanien. Die meisten kommen über den Landweg von Mali oder Niger über Algerien nach Marokko - von dort aus stechen sie nach Spanien in See. Durch das Alborán-Meer oder die Strasse von Gibraltar gelangen sie an die andalusische Küste. Zwischen Nordafrika und Europa liegen dort teilweise nicht einmal 15 Kilometer.

Wie geht die neue Sozialistenregierung mit der Herausforderung um?

Sie hat mit Sofortmassnahmen reagiert und in Andalusien - wo fast alle Migranten ankommen - ein Erstaufnahmezentrum und eine grosse Notunterkunft eingerichtet. Weitere sollen folgen. Ministerpräsident Pedro Sánchez sucht aber vor allem Lösungen und finanzielle Hilfen auf europäischer Ebene. Innenminister Fernando Grande-Marlaska ist mehrfach in Herkunftsländer gereist, speziell nach Marokko, Algerien und Mauretanien, um Gespräche zu führen. Allerdings hat er auch betont, die Situation sei bisher «unter Kontrolle».

Kommen über Marokko jetzt jene Migranten, die es sonst über Libyen versucht hätten?

Die IOM nimmt an, dass die Route über das westliche Mittelmeer eine zusätzliche und keine alternative zu der zentralen Mittelmeerroute von Libyen aus ist. «Es ist aber offensichtlich, dass es Migranten gibt, die schon in ihrem Herkunftsland entscheiden, Marokko (statt Libyen) zu passieren. Vielleicht weil sich herumspricht, wie gefährlich Libyen ist», sagt IOM-Sprecher Flavio Di Giacomo. Informationen, wonach es zunehmend schwierig ist, über Libyen nach Europa zu kommen, sprächen sich in Windeseile auch in den Herkunftsländern herum, sagt UNHCR-Sprecher William Spindler.

Zudem werden die Migrantenströme von Niger aus umgeleitet. Niger ist das südliche Nachbarland von Libyen und Algerien, die Stadt Agadez der Dreh- und Angelpunkt der Migrationsbewegungen in der Region. Statt nach Libyen gelangt ein Teil der Migranten nach Algerien und dann weiter nach Marokko. Der Niger hatte zuletzt die Reise nach Libyen deutlich erschwert, Grenzkontrollen verschärft und das Geschäft der Schleuser vor Ort für illegal erklärt.

Könnte Spanien das «neue Italien» werden?

Danach sieht es zurzeit nicht aus. Die Zahlen für Spanien sind immer noch sehr gering im Vergleich zu denen aus Italien im Vorjahr. Dort kamen in den ersten sieben Monaten 2017 rund 95 000 Menschen an - dieses Jahr nur noch ungefähr 18'500. In Spanien waren es bis August etwa 23 500, mehr als doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum.

Rund 60'000 Menschen haben laut UNHCR in diesem Jahr bislang das Mittelmeer überquert. Das sei etwa die Hälfte im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.

Wie ist die Lage in Marokko?

Unübersichtlich. Niemand weiss genau, wie viele Migranten sich im Land aufhalten. Das Innenministerium in Rabat schätzt, dass es etwa 18'000 sind. In Libyen halten sich laut IOM dagegen knapp 680'000 Migranten auf. Die Menschen, die in Marokko in die Boote steigen, kommen - wenn nicht aus Marokko - teils aus denselben Ländern wie diejenigen in Libyen: aus Nigeria, dem Senegal oder Kongo. Fast alle Migranten gelangen über die mehr als 1000 Kilometer lange Wüstengrenze mit Algerien ins Land, weshalb beide Länder im Streit liegen.

Welche Rolle spielen die spanischen Exklaven?

Spanien verfügt in Nordafrika über zwei Exklaven, Ceuta und Melilla. In ihrer Nähe harren Tausende Afrikaner aus, die hoffen, auf europäisches Territorium zu gelangen. Das gelingt aber nur vergleichsweise wenigen. Seit Jahresbeginn bis zum 15. Juli konnten nach Angaben des Innenministeriums 571 Menschen den doppelten Grenzzaun nach Ceuta stürmen.

Starten auch Boote von Algerien aus?

Ja, und das obwohl die algerische Küste deutlich weiter von Spanien entfernt ist als Marokko. Nahezu jeden Tagen werden Boote abgefangen oder Ertrunkene vor der Küste geborgen. Viele Beobachter erklären sich die Flucht von Algeriern, die neben den Subsahara-Afrikanern einen grossen Teil der Migranten ausmachen, mit der schlechter werdenden wirtschaftlichen Lage im Land. Ähnliches gilt für Marokko.

Kommen in Spanien auch wegen der Anti-Migrationspolitik der neuen populistischen Regierung in Italien mehr Migranten an?

Auf den ersten Blick scheint es so. Doch schon die sozialdemokratische Vorgängerregierung hat durch die verstärkte Unterstützung der libyschen Küstenwache seit letztem Sommer dafür gesorgt, dass weniger Migranten über die zentrale Mittelmeerroute kommen. Der neue rechte Innenminister Matteo Salvini setzt diesen Kurs im Prinzip fort, greift aber etwa mit Hafensperren für Rettungsschiffe noch härter durch.

Welche Rolle spielt die libysche Küstenwache?

Sie agiert im Sinne der europäischen Regierungen und hat, vor allem mit italienischer Hilfe, die Zahl der von ihr abgefangenen Migranten drastisch erhöht. Bis Ende Juli waren es in diesem Jahr laut IOM etwa 12 000 Menschen. Anders als in Europa werden sie zurück in Libyen nicht in Aufnahme-, sondern in Gefangenenlager geschickt.

Aber das soll sich nun ändern?

Zumindest teilweise. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR will in Kürze ein erstes eigenes Auffangzentrum für Flüchtlinge in Libyen eröffnen. Dort können dann etwa 1000 Menschen bis zu einer Umsiedlung in ein Drittland leben. In das Zentrum sollen auch die Flüchtlinge gebracht werden, die die libysche Küstenwache im Mittelmeer aufgreift und an Land zurückbringt. Für Wirtschaftsmigranten ist das Zentrum nicht gedacht. Die können aber weiter mit Hilfe der IOM in ihre Heimatländer zurückkehren. Seit Januar 2017 kehrten so bereits rund 30'000 Migranten aus Libyen in ihre Heimat zurück.

Die Politik redet immer wieder davon, dass Problem bei der Wurzel - den Fluchtursachen - zu packen. Was ist daraus geworden?

Wenig. Zwar investieren Deutschland und die EU verstärkt in einige der Herkunftsländer, doch das ist nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Nigeria etwa mit seinen knapp 200 Millionen Einwohnern hat massive Probleme wie Armut, Mangel an Bildung und Gesundheitsversorgung sowie bewaffnete Konflikte. Die Regierung ist überfordert - daran kann auch ein bisschen mehr Hilfe aus Europa so schnell nichts ändern. Ähnlich sieht es in anderen Ländern aus.

Was ist eigentlich mit der Balkanroute?

Die Lage auf dem Balkan bleibt nach Ansicht von Experten angespannt. Rund 60'000 Zuwanderer hielten sich in der Region auf, sagt der Schlepper-Experte des österreichischen Bundeskriminalamts, Gerald Tatzgern. «Es sind teils Menschen, die sich dort schon seit längerem eingerichtet haben, aber auch erst jüngst via Griechenland eingetroffene Zuwanderer.» So sind nach Angaben des Internationalen Roten Kreuzes beispielsweise in Bosnien-Herzegowina seit Jahresbeginn 8000 Menschen eingetroffen, acht Mal so viel wie 2017.

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