50 Jahre Überfremdungsinitiative Als die Angst vor den Italienern die Schweizer an die Urne trieb

Von Angelo Maiolino

7.6.2020

Der Kampf um die Überfremdungsinitiative wurde im Frühling 1970 mit grosser Härte ausgetragen.
Der Kampf um die Überfremdungsinitiative wurde im Frühling 1970 mit grosser Härte ausgetragen.
Bild: Keystone/Photopress-Archiv

Italianità gehört heute fest zum Schweizer Lebensgefühl. Vor 50 Jahren sah das anders: Aus Angst vor den Fremden aus dem Süden lancierte James Schwarzenbach seine Überfremdungsinitiative – sie hallt trotz Nein bis heute nach.

Heute sind wir alle mediterranisiert. Wir trinken unseren Espresso an der Bar wie in Neapel oder leisten uns eine Espressomaschine aus Mailand mitsamt Baristakurs. Wir essen mehr Mozzarella als Emmentaler und schätzen den aromatischen Duft von Basilikum.

Im Sommer schwelgen wir in den Gassen unserer Städte und geniessen die Pizza unter dem Sternenhimmel. Auch das Klirren der Weingläser, die Musik oder das mehr oder minder laute Geschwätz, das unser Sommeressen umgibt, stören uns nicht.

An den Gewässern erholen wir uns in Badevorrichtungen, die wie adriatische Lidos ausschauen. Heute suggeriert uns diese kleine Prise mediterranes Leben, dass wir weltoffen seien und interessant.

James Schwarzenbachs Überfremdungsinitiative

Vor 50 Jahren war das alles noch undenkbar. Damals galt alles Italienische als eine akute Gefahr für Kultur und Identität der Schweiz. Am 7. Juni 1970 kam die sogenannte «Schwarzenbach-Initiative» zur Abstimmung. Sie verlangte die Reduktion des Ausländeranteils in der Schweiz – der damals bei etwa 17 Prozent lag –, auf zehn Prozent.

Diese zweite Überfremdungsinitiative (eine erste von der Demokratischen Partei kam 1968 nicht zustande) wurde von keiner Bundesratspartei oder Gewerkschaft und auch keinem Arbeitgeberverband unterstützt. Alleine gegen alle führte James Schwarzenbach – einziger Nationalrat der Partei «Nationale Aktion gegen Überfremdung von Volk und Heimat» – seinen Kreuzzug gegen die «braunen Söhne des Südens», wie er sie nannte.

Und fast hätte er gewonnen: Die Initiative wurde von 46 Prozent der abstimmenden Schweizer Männer – Frauen hatten damals noch kein Stimmrecht –, bei einer Rekordstimmbeteiligung unterstützt.

Befürworter der Überfremdungsinitiative, über die vor 50 Jahren abgestimmt wurde.
Befürworter der Überfremdungsinitiative, über die vor 50 Jahren abgestimmt wurde.
Bild: Keystone

Der Sohn einer der reichsten Familien der Schweiz gefiel sich in seiner intellektuellen Art als Aristokrat, der für die Interessen des kleinen Mannes kämpfte. Sein Kampf galt den ausländischen und damals vor allem italienischen Arbeitern, die als billige Muskelmasse in grosser Anzahl in die Schweiz geholt wurden, aber als Menschen nie ankamen.

«Tschinggen» werden zu Sündenböcken

In diesen Jahren herrschte in der schweizerischen Öffentlichkeit ein raues Klima, dessen kalter Wind in eine Richtung blies: zu den «Tschinggen». Diese despektierliche Bezeichnung erhielten Italiener und Italienerinnen wegen des Spiels «Morra». Die Logik dieses Spiels will es, dass die Zahl «Fünf» häufig vorkommt. Im Dialekt der vielen jungen Männer aus Süditalien wird die Zahl nicht als «cinque», sondern abgekürzt als «cinq» – «tschingg» – ausgesprochen. Die Schweizer hielten es für ein Fluchwort und stigmatisierten damit eine ganze Minderheit.

James Schwarzenbach – hier ein Bild aus dem Jahr 1971 – trieb die Überfremdungsinitiative quasi im Alleingang voran.
James Schwarzenbach – hier ein Bild aus dem Jahr 1971 – trieb die Überfremdungsinitiative quasi im Alleingang voran.
Bild: Keystone/Photopress-Archiv

In den Augen von James Schwarzenbach und seiner Anhänger waren die Italiener für sinkende Löhne, Verschmutzung auf der Strasse und Sittenverfall verantwortlich. Mit ihrer Lebensart würden sie zudem die Strassen, Plätze und Bahnhofshallen überfüllen, die Töchter und Frauen der Schweizer Männer bezirzen und den Schweizern den Arbeitsplatz streitig machen. Nicht zuletzt waren sie für Schwarzenbach und Konsorte auch gefährliche Kommunisten.

Ziemlich viel Macht für Menschen, die in heruntergekommenen Arbeiterbaracken kaserniert wurden. Weit weg von den schillernden Stadtzentren, die sie in unzähligen Überstunden und zu einem miserablen Lohn aufgebaut hatten. In der geringen Freizeit, die ihnen blieb, wurden sie vor Restaurants und Ausgehlokalen mit Schildern, auf denen «Für Hunde und Italiener verboten» stand, begrüsst.

Die selbstverständliche Diskriminierung einer Minderheit durch eine Mehrheit zeigte sich damals aber nicht nur im Alltag, wo der Begriff «Sau-Tschingg» schnell zur Stelle war, wenn Italiener irgendetwas taten, was in den Augen selbstgerechter Schweizer nicht korrekt war. Auch in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht fand eine verdeckte, aber umso wirksamere Diskriminierung statt.

Saisonniers und versteckte Kinder

Viele Arbeiter und Arbeiterinnen aus Italien arbeiteten zu dieser Zeit als Saisonniers auf dem Bau, in der Gastronomie oder in der Landwirtschaft. Sie durften nur für die im Vertrag festgehaltene Frist – meistens neun Monate – in der Schweiz bleiben und mussten danach das Land wieder verlassen.

Wenn der Arbeitgeber wollte, konnte er ihnen im neuen Jahr erneut einen Saisonniervertrag ausstellen. Damit waren sie dem Arbeitgeber ausgeliefert, zumal dieser, im Wissen um die Perspektivlosigkeit in Italien, den Lohn beliebig senken konnte. Zudem durften sie ihre Familien nicht nachziehen und mussten wegen Wohnungsnot und tiefen Löhnen oftmals in Baracken auf engstem Raum leben.

Aus politischer Sicht war das Saisonnierstatut jedoch ein erwünschtes Instrument zur Vermeidung der Arbeitslosigkeit in der Schweiz. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten wurden die Verträge einfach nicht erneuert. Damit wurde die Arbeitslosigkeit wie durch eine unsichtbare Hand in den Süden exportiert.

Aber auch die Erteilung des Jahresaufenthalts oder der Niederlassungsbewilligung sowie des Familiennachzugs, der damit möglich wurde, unterlag der Willkür schweizerischer Ämter. Diese entschieden nämlich, wann eine Wohnung für den Familiennachzug «angemessen» war – und das konnte sie unter Umständen eben nie sein. Wollten die Italiener trotzdem ihre Kinder bei sich haben, mussten sie diese vor der Fremdenpolizei verstecken. Schätzungen aus dem Jahre 1971 ergaben, dass in der Schweiz zwischen 10'000 und 15’000 klandestine Kinder lebten.

Von Mussolini zum Kampf gegen die Schwächsten

James Schwarzenbach war vor seiner Kandidatur für die «Nationale Aktion» ein glühender Verehrer der faschistischen Staatsordnungen in Italien oder Spanien. Für ihn stellten die «braunen Söhne des Südens» ein «artfremdes Gewächs» dar, das die schweizerische Wirtschaft, Kultur und Eigenart bedrohen würde.

Im Schatten dieses gesellschaftlichen Klimas, in dem der Kampf gegen unerwünschte Fremde von James Schwarzenbach zur Schicksalsfrage des Landes aufgebauscht wurde, fristeten die Italiener und Italienerinnen ein Dasein am Rande der sozialen, politischen und ökonomischen Anerkennung. Sichtbar in den Fabriken und auf den Strassen, mussten sie sich abends in die abgelegenen Arbeiterbaracken zurückziehen. Dies war damals die Lage jener, die später mit ihrer Kultur, ihren kulinarischen Traditionen und ihrem Lebensstil die Schweiz bereichert und ein Stück weit mediterranisiert haben.

Heute sind es nicht mehr die Italiener, die häufig für die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Schweiz verantwortlich gemacht werden. Heute richtet sich der Fremdenhass gegen andere und immer wieder neue Menschen aus dem Ausland, die genauso wie die damaligen Italiener ein besseres Leben für sich und ihre Kinder suchen, aber genauso wie die damaligen «Tschinggen» diskriminiert und ausgegrenzt werden. Schwarzenbachs Denkweisen sind hinter dem glitzernden Schein einer Gesellschaft, die sich im mediterranen Lebensgefühl selber zelebriert, weiterhin wirksam.

Zurück zur Startseite