Kantonsarzt Hauri antwortet dem Impf-Skeptiker «Auch Jüngere kann es hart erwischen»

Von Gil Bieler

27.6.2021

Rudolf Hauri ist Präsident der Vereinigung der Kantonsärztinnen und Kantonsärzte. 
Rudolf Hauri ist Präsident der Vereinigung der Kantonsärztinnen und Kantonsärzte. 
Bild: Keystone

Zweifel am mRNA-Verfahren und keine Angst vor einer Covid-Erkrankung: Ein Impfskeptiker hat «blue News» diese Woche erklärt, wieso er sich nicht impfen lassen will. Nun antwortet ihm der oberste Kantonsarzt des Landes.

Von Gil Bieler

27.6.2021

Unbedingt impfen lassen! Bundesrat Alain Berset verpasst bei seinen Medienauftritten keine Chance, diesen Appell unterzubringen. Dennoch lässt sich ein guter Teil der Bevölkerung nicht für die Coronavirus-Impfung begeistern. Etwa der 37-jährige Manuel* aus dem Kanton St. Gallen, der seine Bedenken diese Woche «blue News» erklärt hat.

Für Manuel stimmt die Kosten-Nutzen-Rechnung nicht. So traut er beispielsweise dem mRNA-Verfahren nicht. Und da er keiner Risikogruppe angehört, habe er auch keine Angst vor einem schweren Krankheitsverlauf. «Das Risiko, dass ich auf dem Arbeitsweg bei einem Autounfall sterbe, ist einiges höher.» Wieso also impfen lassen?

Das kann man den obersten Kantonsarzt des Landes fragen. Rudolf Hauri, Präsident der Vereinigung der Kantonsärztinnen und Kantonsärzte, hat sich mit den Bedenken des Impfskeptikers auseinandergesetzt und nimmt nun detailliert Stellung dazu.



Zunächst einmal gibt er Manuel recht – zumindest ein Stück weit. «Tatsächlich ist es so, dass man in jüngerem Alter grundsätzlich von einem milderen Verlauf ausgehen kann», sagt Hauri. Zu den «jüngeren» zählen hierbei Personen zwischen 15 und 35 Jahre. Mit zunehmendem Alter steige auch das Risiko eines schweren Verlaufs.

Jedoch gelte für alle Kategorien: «Auch wenn man gesund ist und keine Vorerkrankungen hat, ist das noch keine Garantie für einen milden Verlauf.» Er kenne aus seinem Berufsalltag zahlreiche Fälle von jungen, sportlichen Menschen, denen es anders ergangen sei – sie seien «richtig krank» geworden, hätten noch lange Zeit mit Atemproblemen zu kämpfen. «Auch jüngere Leute kann es hart erwischen, das zeigt sich auch auf den Intensivstationen.»

«Das Coronavirus ist nicht mit einem saisonalen Virus vergleichbar»

Ein weiterer Punkt des Impfskeptikers: Der Solidaritätsgedanke kann ihn nicht überzeugen. Auch eine Grippe könne man ungewollt an besonders gefährdete Personen weitergeben. Trotzdem werde man da nicht in gleichem Ausmass zum Impfen aus Solidarität aufgerufen. «Erst jetzt bei der Corona-Impfung gilt man schon fast als Mörder, wenn man sich dagegen entscheidet.»

«Hier muss man bedenken, dass das Coronavirus mit einem saisonal wiederkehrenden Virus nicht vergleichbar ist», sagt Hauri. Die Grippe führe über die Jahre hinweg zu einer gewissen Grundimmunität der Bevölkerung. «Auch wenn man nicht frisch geimpft ist, hat man diese schon aufgrund von in der Vergangenheit durchgemachter Erkrankungen.» Wenn schon, müsste man das Coronavirus mit einem pandemischen Grippevirus vergleichen – und 2009 sei bei der Schweinegrippe etwa in New York genauso intensiv geimpft worden wie jetzt.

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Die generelle Frage nach der Solidarität bleibt dennoch: Mittlerweile habe jede und jeder die Möglichkeit, sich impfen zu lassen, findet Manuel – und viele tun das ja auch. Warum sollte er sich also auch noch impfen lassen? «Wer sich nicht impfen lassen will und sich dann trotzdem ansteckt, ist selber schuld.»

«Es ist so, beim Impfen spielt ein Solidaritätsgedanke», sagt der Zuger Kantonsarzt. Doch zahle sich das am Ende für die gesamte Gesellschaft aus. Die Erfahrung zeige: «In Gemeinschaften mit einer extrem hohen Impfbereitschaft sind keine oder kaum noch coronabedingte Erkrankungen, Arbeitsausfälle oder gar Todesfälle zu verzeichnen.» Beispiele für solche Gemeinschaften seien Klöster oder Pflegebetriebe. «Das Virus mittels Impfung sehr stark einzuschränken, funktioniert also.»

Dabei spiele auch das Tempo eine massgebliche Rolle: Wie sich das Virus zu Beginn der zweiten Welle im Herbst 2020 exponentiell verbreiten konnte, so breche die Kurve der Neuinfektionen bei einer hohen Durchimpfung auch exponentiell ein. «Wenn man das Pandemie-Geschehen möglichst rasch unter Kontrolle bringen will, führt an einem hohen Impftempo kein Weg vorbei.»

«Das Virus wird nicht einfach verschwinden»

Zu Bedenken sei auch: «Das Virus wird nicht verschwinden.» Es werde aber zu einer Immunität der Bevölkerung führen. «Die Frage ist einfach, wie man diese erreichen will: Schnell und mittels kontrollierter Impfung oder über Jahre hinweg mittels unkontrollierter Folgen von Ansteckungen.»

Hauri hofft, dass eine Durchimpfung von 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung über 15 Jahren erreicht werden kann. Das Virus würde sich dann auf Stufe einer Erkältung abschwächen.

Jetzt treten aber laufend neue Mutationen auf den Plan – Stichwort Delta-Variante, die gerade in Israel trotz hoher Durchimpfung zu einer Zunahme der Fallzahlen führt. Machen die nicht alle Bemühungen zunichte? Hauri glaubt das nicht und verweist auf Erfahrungen mit anderen Viren.



«Ein Virus, das an Aggressivität nachlässt, ist evolutionär betrachtet im Vorteil.» Denn wenn der Wirt – also der Mensch – zu sehr geschwächt werde, bleibe er im Bett liegen und habe weniger Kontakt mit anderen. Das Virus könne sich also nicht mehr weiterverbreiten. «Daher sind im Verlauf der Zeit zwar neue Varianten zu erwarten, die ansteckender sind – aber gleichzeitig milder in ihren Auswirkungen.»

Bleiben noch Manuels Zweifel am mRNA-Verfahren. Diese seien unbegründet. «mRNA ist ein natürlicher Botenstoff, der der Wissenschaft schon lange bekannt ist», sagt Hauri. «Jede unserer Zellen arbeitet damit.» In der Medizin werde seit über 20 Jahren mit mRNA gearbeitet – bisher jedoch vor allem in Form von Therapien, etwa zur Bekämpfung von Tumoren. «Was aber wirklich neu ist, sind Impfstoffe auf Basis von mRNA.»

Es ist also Neuland – und hier kommen Bedenken zu langfristigen Nebenwirkungen ins Spiel, die sich erst im Laufe der Zeit zeigen könnten.

Hauri holt etwas aus: «Was wir gerade kennenlernen, sind die Langzeitfolgen von Covid», erklärt der Kantonsarzt. Oft gehe vergessen, dass die Erkrankung alle Organe schädigen könne, also nicht nur die Atemwege: «Das Virus kann auch Nieren, Herzmuskel und das Gehirn befallen.» Long Covid sei nur eine von vielen Folgeerscheinungen.



Wenn man die unerwünschten Nebenwirkungen einer Impfung den Folgen einer Covid-Erkrankung gegenüberstelle, zeige sich ein klares Bild: «Das Risiko für ernsthafte Komplikationen ist bei einer Impfung um ein Vielfaches kleiner als bei einer natürlichen Ansteckung.» Wäre dies nicht bereits in Studien erwiesen worden, wären die Impfstoffe auch gar nicht erst für die Schweiz zugelassen worden.

Dennoch: Weil die Impfstoffe relativ neu sind, gibt es schlicht noch keinen langfristigen Beobachtungszeitraum. «Das ist so», räumt Hauri ein. «Aber wenn man wirklich von langfristigen Nebenwirkungen reden will, dann sprechen wir von Jahrzehnten.» So lange zuwarten wäre in einer Pandemie schlicht keine Option.

Komme hinzu: «All die Inhaltsstoffe der Corona-Vakzine sind erprobt und schon Jahrzehnte bekannt.» Das Einzige, was unter dem Strich fehle, seien Langzeiterfahrungen mit dem Einsatz von mRNA als Impfstoff.

«Im Nachhinein ist es zu spät zu sagen: ‹Hätte ich mich doch impfen lassen.›»

Dass sich Leute wie Manuel mit der Corona-Impfung schwertun, kann Hauri verstehen. Am Ende müsse natürlich jeder und jede selber entscheiden, ob eine Impfung mehr Nutzen als Schaden bringe. Wenn nicht aus Solidarität, dann zumindest aus Eigennutz sollte man sich dies aber gut überlegen: Eine Impfung schütze nun einmal vor einem schweren Krankheitsverlauf. «Wenn das Virus einen erwischt, ist es nachher zu spät zu sagen: ‹Hätte ich mich doch impfen lassen.› Ich kenne einige junge Leute, die im Nachhinein so denken.»

Gerade mit Blick auf den Herbst sei das Risiko für ungeimpfte und nicht genesene Personen gross: «Es wird sicherlich zu einer vierten Infektionswelle kommen», so Hauri, und bestätigt damit Prognosen von Bundesrat Berset. «Die Frage ist einzig, wie hoch und wie breit die Kurve ausfallen wird.»

*Name der Redaktion bekannt