Briten meiden die Schweiz Das Ende einer langen Liebe?

Von Hanspeter «Düsi» Künzler, London

2.8.2022

Warum wollen die Briten nicht mehr in die Schweiz kommen?
Warum wollen die Briten nicht mehr in die Schweiz kommen?
Matt Dunham/AP/dpa

Die Schweiz scheint bei Briten als Arbeitsland nicht mehr gefragt zu sein. Letztes Jahr verliessen mehr Briten die Schweiz, als Neuankömmlinge registriert wurden. Woran liegt das?

Von Hanspeter «Düsi» Künzler, London

2.8.2022

Jahrelang rissen sich die Briten um die guten Jobs in der Schweiz. Doch plötzlich ist die Tendenz rückläufig. Das Traumland Switzerland scheint an Attraktivität verloren zu haben.

Die Statistiken des Staatssekretariats für Migration sprechen eine klare Sprache. In den letzten zwanzig Jahren lag der Wanderungssaldo britischer Bürger*innen in der Schweiz eindeutig im positiven Bereich. Sprich: Die Zahl der Briten, die in der Schweiz ankamen, um neue Jobs anzutreten, war höher als diejenige derer, die den entgegengesetzten Weg einschlugen.

Ein Artikel im «Tages-Anzeiger» zitierte diverse Stellen, darunter die britische Botschaft in Bern sowie den Pharmakonzern Roche, die für diese Entwicklung verschiedene möglichen Gründe aufzählten. Die mit der Pandemie verbundene allgemeine Unsicherheit wurde genannt.

Dazu die Tatsache, dass in Grossbritannien genauso ein Mangel an hoch qualifizierten Fachkräften aller Art herrscht wie in der Schweiz, und dass Briten jetzt lieber Jobs im eigenen Land annehmen, um nicht umziehen zu müssen. Und natürlich der Brexit, der die Personenfreizügigkeit im Januar 2021 abklemmte und internationale Umzüge mühsam machte.

Bestimmt kann das Ausbleiben der Briten mindestens spurenweise mit einer Kombination dieser drei Faktoren erklärt werden: die Pandemie hat Zukunftsängste angeheizt, der Brexit den Papierkrieg vervielfacht, und das Angebot der offenen Stellen auf der Insel das Bleiben attraktiver gemacht.

Angebot des Bundes lässt Briten kalt

Gerade die Situation mit den Brexit-Folgen wirft indes andere Fragen auf. Nämlich hat der Bundesrat die traditionellerweise enge Verbundenheit der Schweiz mit Grossbritannien gewürdigt, indem er den Briten pro Jahr 3500 neue Arbeitsbewilligungen zusprach, derweil es für die restlichen Nicht-EU-Staaten gesamthaft nur 8500 sind.

Aber das Angebot hat keine Begeisterung ausgelöst. Knapp ein Viertel des Kontingentes wurde im vergangenen Jahr genutzt. Die Brexit-These deckt sich auch nicht mit meinen eigenen Beobachtungen – jedenfalls nicht auf eine Art, wie sie das Ausbleiben der Briten erklären würde, im Gegenteil.

Vor lauter Gräuel vor dem Brexit und dessen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen haben sich zahlreiche Familien in meiner Freundes- und Social-Media-Bubble irische, deutsche und andere EU-Pässe zugelegt. Die Bereitschaft, ins Ausland zu ziehen, ist grösser denn je.

Künstler leben auf der Insel und in der Schweiz teuer

John Wheeler, Kopf der international erfolgreichen Band Hayseed Dixie, war der erste unter ihnen, der nach vielen Jahren in England explizit die Flucht vor dem Brexit ergriff und nach Deutschland zog. Inzwischen sind mehrere befreundete britische Musiker seinem Beispiel gefolgt: Sie können sich das Künstlerleben auf der Insel schlicht nicht mehr leisten, jetzt, wo die neuen Regeln das Organisieren von Tourneen auf dem europäischen Kontinent so viel teurer und komplizierter gemacht haben. Allerdings: Wer ein billigeres Leben sucht, mag in anderen Ländern als der Schweiz vermutlich besser fahren …

Ich habe eine andere Theorie. Wie von den Gegner*innen vorausgesagt, hat der Brexit auf der Insel eine neue Welle von Xenophobie ausgelöst und damit den nostalgischen «British is Best»-Vibe geschürt, den auch Ex-Premier Boris Johnson sehr enthusiastisch propagierte. Und die Pandemie hat diesen Gefühlen Flügel verliehen. Es ist mir völlig klar, dass der superbillige Massentourismus im Hinblick auf die Klimakrise gewaltige Probleme aufwirft.  

Er hatte aber auch eine positive Seite: Unzählige Briten, die nicht mit Luxusbudgets unterwegs waren, lernten durch ihn andere Länder, Sitten und Kulturen kennen und, ja, schätzen. Im Fahrwasser der Fussball-EM von 1996 geriet die Insel in einen Euro-Rausch. Man hörte plötzlich französische Musik, trank Espresso, las gelegentlich den Roman einer deutschen Schriftstellerin, und die BBC zeigte «Il commissario Montalbano».

Was bleibt, sind Vorurteile und Ferienerinnerungen

Mit dem Brexit schwang das Pendel zurück. Es triumphierte die Gegenbewegung. Der Lockdown kam für sie im perfekten Moment: Man merkte plötzlich, dass es eigentlich ganz angenehm war, nur noch daheim zu hocken, kein Geld auszugeben, und am Fernsehen klassische britische Comedy-Serien zu geniessen. Und vor allem: Man musste sich nicht mehr mit den Macken anderer herumschlagen. Man verlor die Übung im Umgang mit Nachbarn, geschweige denn Ausländern. So wurde die Bekanntschaft mit fremden Kulturen auf alte Vorurteile und entfernte Ferienerinnerungen reduziert.

Und bei aller historischen Geistesverwandtschaft – Switzerland gehörte ja schon vor zweihundert Jahren zu den Traumzielen reicher britischer Weltenbummler – haben die Briten noch nie gegeizt, wenn es darum ging, die Schweizer Landschaft toll zu finden, die Eigenschaften von deren Bewohner*innen aber als schräg, unbegreiflich oder gar absurd darzustellen. Etwas Banales und Praktisches wie die Schweizer Pünktlichkeit zum Beispiel finden Briten manchmal regelrecht unheimlich – obwohl (oder vielleicht weil!) sie sich endlos über die eigene Unpünktlichkeit aufregen.

Liebe für italienische Züge, Hass für die SBB

Ich erinnere mich an einen Beitrag des Starautors Anthony Burgess («Clockwork Orange») in einer Illustrierten. Er nahm die europäischen Eisenbahnen unter die Lupe, liebte die Italiener und hasste die SBB: Deren Pünktlichkeit erinnerte ihn ungut an unheimliche, militärische Zackigkeit.

Vor Kurzem löste ich in einer geselligen Runde schallendes Gelächter aus: Ich hatte mich gewundert, warum es Briten so bünzlig finden, dass man in Wohnblöcken spätabends nicht duschen darf. Dies, obwohl ich einen Fall aus meiner Londoner Zeit als aktiver Wohngenossenschafter zitierte, wo ich einen Streit schlichten musste, weil es einen Hausbewohner störte, dass seine Nachbarin morgens um sechs Uhr duschte und durch die vibrierenden Rohre das ganze Haus frühzeitig aufweckte.

Langer Rede kurzer Sinn: In meinen Augen haben sich Lockdown und Brexit verschworen, um in den Briten die alte Angst vor dem Fremden, dem, was sie nicht beherrschen oder wenigstens verstehen können, aufflackern zu lassen. Entsprechend schwierig ist die Vorstellung, in ein Land wie die Schweiz zu zügeln: schöne Berge, gute Schoggi, aber leider von unglaublich eigenartigen Menschen bewohnt …