Wie weiter mit Omikron? «Die Durchseuchung findet schon statt» – «Das führt zu vielen Opfern»

Von Maximilian Haase

12.1.2022

Dicht gedrängt stehen die Zuschauer während des Skiweltcups in Adelboden – und das trotz grassierender Omikron-Welle.
Dicht gedrängt stehen die Zuschauer während des Skiweltcups in Adelboden – und das trotz grassierender Omikron-Welle.
Bild: Keystone/Jean-Christophe Bott

Wie soll die Schweiz auf Omikron reagieren? Während die einen die Durchseuchung als unvermeidlich ansehen, fürchten andere langfristige Folgen. Heute entscheidet der Bundesrat über weitere Schritte.

Von Maximilian Haase

12.1.2022

Die Corona-Fallzahlen steigen weiter an, Omikron sorgt für die höchste Infektionsrate seit Beginn der Pandemie. Derweil wartet die Regierung weiter ab, eine Verschärfung der Massnahmen ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Künftig solle die Quarantäne auf sieben Tage reduziert werden, kündigte Virginie Masserey, Leiterin Sektion Infektionskontrolle, auf der Medienkonferenz des BAG am Dienstag an. Schon länger wird debattiert, die Quarantänepflicht zu verkürzen oder ganz abzuschaffen. Der Bundesrat soll nun am Mittwoch entscheiden.

Aufsehen erregen indes Bilder wie am Skiweltcup in Adelboden mit 12'000 dicht gedrängten Fans. Es steht die Frage im Raum, ob eine «Durchseuchung» der Bevölkerung unvermeidbar oder doch noch zu verhindern ist. 

Mit welcher Strategie also soll die Schweiz der neuen Welle begegnen? Während die einen auf mildere Krankheitsverläufe, den Schutz durch Boosterimpfungen und sinkende Hospitalisierungsraten verweisen, warnen andere vor den langfristigen Folgen durch Long Covid und den Auswirkungen auf das Gesundheitssystem.

Ist die Durchseuchung schon im Gange?

«Die Durchseuchung findet schon statt und ist wohl kaum aufzuhalten, jedenfalls nicht mit verhältnismässigen Massnahmen», sagt etwa Rudolf Minsch, Chefökonom bei Economiesuisse, zu blue News. Omikron sei sehr viel ansteckender als die Delta-Variante, auch Geimpfte würden das Virus weitergeben, so der Experte: «Ich glaube nicht, dass sich Ungeimpfte längerfristig einer Ansteckung entziehen können.»



«Es wird wichtig sein, dass die Schweiz die Omikron-Welle mit möglichst wenig Infizierten übersteht», hält Andreas Cerny dagegen. Hospitalisierungen und Intensivstationsbelegung seien «nur die Spitze des Eisbergs», so der in Lugano praktizierende Infektiologe und Arzt zu blue News. Hohe Fallzahlen würden «auch die normalen Abläufe in der Gesellschaft ganz generell» behindern.

Cerny warnt: Eine Strategie, «Omikron ohne Schutzmassnahmen zu begegnen, wird zu vielen Opfern unter Ungeimpften, Immungeschwächten und Personen mit Risikofaktoren führen». Personen dieser Gruppen würden «vermehrt schwere Erkrankungen erleiden und unser Gesundheitssystem weiterhin stark belasten, beziehungsweise bald auch überlasten».

Dem stimmt auch die Patientenorganisation Long Covid Schweiz zu: «Eine unkontrollierte Durchseuchung der Bevölkerung kann und darf nicht das Ziel sein», so Mediensprecher Christian Salzmann zu blue News. Dies möge vielleicht die Pandemie verkürzen, hinterliesse «aber sicher viele versehrte Menschen, deren Zukunft mehr als ungewiss ist».

Mancher Mediziner glaubt, dass die Durchseuchung schon an Fahrt aufgenommen habe. So auch der Zürcher Infektiologe Huldrych Günthard: Die Schweiz sei «in einer Phase, in der wir in Richtung Durchseuchung gehen», sagt der Arzt im Gespräch mit SRF. Jedoch habe man die Welle «mit den aktuellen Massnahmen momentan überhaupt nicht im Griff». 

Debatte um Verkürzung der Quarantäne

Andere halten die Massnahmen für zu viel des Guten: «Spätestens, wenn alle, die das wollen, ihren Booster erhalten und somit einen sehr guten Schutz vor Hospitalisierung haben, müssen die Massnahmen aufgehoben werden», zitiert etwa «20 Minuten» den Wirtschaftswissenschaftler Reiner Eichenberger.

Sein Kollege Rudolf Minsch von Economiesuisse ist ähnlicher Meinung: «Wir sind überzeugt, dass die jetzigen Vorschriften überzogen sind», so der Ökonom zu blue News. Die Regelungen seien in einer frühen Phase der Pandemie auf Basis der damaligen Erfahrungen beschlossen worden. Bei Omikron wisse man mittlerweile, «dass Personen weniger lange ansteckend sind als bei den bisherigen Varianten». Das gelte auch für asymptomatisch Positive.

Dies hätte Auswirkungen auf die Quarantäne: Bei einer zehntägigen Isolations- und Quarantänezeit würden «sehr viele gesunde Menschen zu Hause bleiben müssen, die problemlos am Arbeitsplatz erscheinen könnten», so Minsch. Bereits Anfang Januar hatte Economiesuisse eine Verkürzung der Quarantänezeit auf fünf Tage gefordert.



Minsch verweist auf die Folgen für die Wirtschaft: Die aktuellen Regeln würden dazu führen, dass die Produktion sowohl in der Industrie als auch bei Dienstleistungsunternehmen «deutlich eingeschränkt» würde. Bereits jetzt müssten einige Unternehmen den Betrieb «vorübergehend sogar ganz einstellen, weil das nötige Personal fehlt». 

Weil so viele Menschen in Quarantäne oder Isolation sind, sei die Wirtschaft nachhaltig gestört, bestätigte auch Virginie Masserey an der Medienkonferenz des BAG. Die Dauer dieser Massnahmen solle deshalb zurückgefahren werden. Der Entscheid, die Quarantäne auf sieben Tage zu reduzieren, müsse aber der Bundesrat fällen.

Forderungen nach einer Änderung der Quarantänezeit kommen auch aus der Medizin: Das Virus zirkuliere und man könne es «durch eine Quarantäne von zehn Tagen auch nicht aufhalten», zitiert SRF etwa den Basler Infektiologen und ehemaligen Vizepräsidenten der Covid-19-Taskforce Manuel Battegay. Er sei der Meinung, «dass wir die Quarantäne ganz aufgeben sollten, wenn die Fälle deutlich abnehmen».

«Die Quarantäne ist sehr effektiv»

Etwas anders sieht das Infektiologe Cerny: «Die Quarantäne ist sehr effektiv, um die Infektionsketten zu unterbrechen. Sie abzuschaffen, wäre aus epidemiologischer Sicht falsch und würde zur Zunahme der Fallzahlen führen und damit auch der Personen, die isoliert werden müssen». Damit, so Cerny zu blue News, würde das Ziel verfehlt, die Ausfälle durch Quarantäne und Isolation in der Bevölkerung zu reduzieren.



Aus Sicht des Mediziners könne die Quarantäne allenfalls reduziert werden. Dabei sei zu berücksichtigen, dass die meisten Infizierten nach Symptombeginn für etwa zehn Tage ansteckend für andere Personen seien. «Eine Verkürzung der Quarantäne ist deshalb mit einem gewissen Restrisiko verbunden», das durch «Freitesten» minimiert werden könne. Allgemein fordert Cerny: «Die Schutzmassnahmen sollten verschärft werden.»

Die Quarantäne abzuschaffen, «erachten wir als nicht sinnvoll», sagt auch Christian Salzmann von Long Covid Schweiz. Schliesslich herrsche noch keine Klarheit darüber, wie lange Omikron-Patient*innen ansteckend seien.

Long Covid und die Folgen

Die Patientenorganisation warnt zudem vor den Langzeitfolgen: Diese seien «noch nicht abzusehen, da sich in Vergangenheit gezeigt hat, dass vor allem Personen, die ‹mild› erkrankten, nachher Long Covid entwickelt haben. Möglicherweise kommt nach der ‹Omikron-Wand› eine ‹Long-Covid-Wand›». Sollte dies eintreffen, «stünde die eigentliche Gesundheitskrise erst noch bevor».

Gehe man davon aus, dass Omikron vergleichbar viele Menschen mit Long Covid zurückliesse wie die vorherigen Wellen, «dürfte dies unser Sozialsystem stark und anhaltend belasten», so Salzmann zu blue News.

Auch Neurowissenschaftler Dominique de Quervain twitterte kürzlich: «Wenn Omikron in gleicher Häufigkeit Long Covid verursacht wie die früheren Varianten, kommen derzeit jeden Tag Tausende von Menschen hinzu, die an lang anhaltenden Symptomen wie Fatigue, Kopfschmerzen, Gedächtnisproblemen oder Atemschwierigkeiten leiden werden».

«Es ist anzunehmen, dass bei hohen Fallzahlen auch die Long-Covid-Fälle zunehmen werden», schätzt auch Andreas Cerny die Lage ein. Rudolf Minsch von Economiesuisse hält dagegen: Zwar sei vieles noch nicht mit Sicherheit bekannt. Doch gebe es einen Zusammenhang von Long Covid mit der Schwere des Krankheitsverlaufes. «Es scheint nun so zu sein, dass Geimpfte nicht nur weniger schlimme Krankheitsverläufe haben, sondern auch Long Covid wenig verbreitet ist.» Zentral sei also, dass sich insbesondere die erwachsene Bevölkerung impfen lasse.