Brand im Flüchtlingslager «Die Schweiz macht, was sie kann» – oder läge mehr drin?

Von Julia Käser und Anna Kappeler

9.9.2020

Hiesige Politiker sprechen nach den Bränden im Flüchtlingslager auf Lesbos von einer «Tragödie mit Ankündigung». Da stellt sich die Frage: Hätte die Schweiz mehr Verantwortung übernehmen müssen?

In der Nacht auf Mittwoch sind im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos mehrere Brände ausgebrochen. Die griechische Regierung geht von organisierter Brandstiftung aus.

Obwohl der Brand am frühen Mittwochmorgen weitgehend unter Kontrolle gebracht werden konnte, stehen Tausende Menschen nun ohne Dach über dem Kopf da. Kommt hinzu, dass im Camp seit letzter Woche zunehmend mehr Coronafälle auftreten – was zu Unruhen führte.

Die Bilder aus Lesbos sind erschütternd, wie auch Anja Klug sagt. Sie ist Vertreterin der UNO-Flüchtlingsorganisation (UNHCR) für die Schweiz und Liechtenstein. Überrascht hat Klug das Feuer jedoch nicht. «Kennt man die Zustände, musste man sich leider auf so ein Unglück gefasst machen.» 

Stadt Bern will 20 Flüchtlinge aufnehmen

Der Gemeinderat der Stadt Bern fordert die Bundesbehörden auf, die Direktaufnahme von Flüchtlingen zuzulassen. Gleichzeitig will er in einem ersten Schritt einer Gruppe von zwanzig Menschen aus Moria Zuflucht in Bern gewähren. Das teilt der Gemeinderat in einer Medienmitteilung mit. (aka)

Klug selbst war 2012 vor Ort auf Lesbos. Schon damals sei die Lage im Camp Moria sehr schlimm gewesen – und habe sich seither durch die zunehmende Anzahl Menschen weiter verschlimmert. «Im Lager herrschen unhaltbare Zustände. Darauf weist das UNCHR seit Jahren hin.»

«EU-Länder und die Schweiz müssen solidarischer werden»

Zum Glück hätten die griechischen Behörden nach dem Ausbruch des Feuers schnell gehandelt, so Klug. «Ich möchte daran erinnern, dass Moria ein griechisches Lager ist, kein UNHCR-Lager. Griechenland steht in der Verantwortung – besonders, weil Griechenland ein EU-Land mit funktionierenden staatlichen Strukturen ist.»

Gemäss Klug sind andere Staaten aber dazu aufgerufen, Griechenland zu unterstützen. «Die Menschen, die auf Lesbos ankommen, müssen auf das griechische Festland in verschiedene Unterkünfte und auch in verschiedene EU-Länder verteilt werden.» 

Die Zurückhaltung beim Übernehmen von Flüchtlingen seitens europäischer Staaten sei nach wie vor viel zu gross. Obwohl sich vieles bereits verbessert habe, steht für Klug fest, dass die EU-Länder – und auch die Schweiz – solidarischer werden müssten. Denn: «Moria geht uns alle an – trotz Coronakrise und gerade deswegen».

Nimmt die Schweiz ihre Verantwortung wahr?

Die Schweiz mache bereits mehr als viele andere europäische Länder, sagt FDP-Nationalrat Kurt Fluri (SO). Sie trage keine Mitschuld am Elend in Moria. «Die Schweiz macht das, was sie kann – alles andere wäre vorauseilender Gehorsam, solange andere Länder sich nicht auch mehr beteiligen.»

Das Problem liegt gemäss Fluri bei der EU: «Warum akzeptiert die EU immer noch, dass Länder wie die Visegrad-Staaten keine Geflüchteten aufnehmen?»

SP will Geflüchtete evakuieren

SP-Nationalrätin Samira Marti (BL) hingegen sieht die Schweiz in der Pflicht. «Die Schweiz steht in der Verantwortung, ebenso die anderen europäischen Staaten», sagt sie. «Es braucht Soforthilfen vor Ort.»

Zusätzlich verlangt die Nationalrätin, dass die Menschen auf Lesbos nun endlich evakuiert werden müssten. Schon im Mai hatte Marti diese Forderung gegenüber «Bluewin» angebracht. 

«Die Evakuierung der Menschen in Griechenland ist machbar und rein praktisch umsetzbar», so Marti. Aufgrund der tiefen Asylzahlen stünden genügend Ressourcen zur Verfügung. Was fehle, sei einzig der politische Wille von FDP-Bundesrätin Karin Keller-Sutter. 

FDP-Nationalrat Fluri verweist auf eine Motion der Staatspolitischen Kommission, in der der Bundesrat beauftragt wird, sich auf europäischer Ebene für eine Reform des Dublin-Abkommens einzusetzen. Ein Ziel der Motion: Eine gerechtere und gleichmässigere Verteilung unter Sicherstellung einer menschenwürdigen Behandlung der Flüchtlinge.

Das sei nach den jüngsten Ereignissen speziell nötig – die Brände haben Fluri nicht überrascht: «Das Feuer in Moria ist eine Tragödie mit Ankündigung. Wenn in Coronazeiten zu viele Leute auf zu wenig Raum leben müssen, muss mit solchen schlimmen Vorfällen gerechnet werden.»

«Tragödie mit Ankündigung»

Einig sind sich Fluri und Marti bei der Aufnahme von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden UMA. Diese sind besonders schutzbedürftig. Im Mai hat der Bund 23 UMA aus Moria in die Schweiz eingeflogen – laut den beiden Politikern ist das nicht genug.



«Ich wäre bereit, 200 UMA mit einem Bezug zur Schweiz und also mit Familie hier direkt aus Griechenland hierherzuholen», sagt Fluri.

Anders klingt das bei SVP-Nationalrat Andreas Glarner (AG). Hilfe vor Ort, wie sie Aussenminister Ignazio Cassis jüngst angekündigt hat, das befürwortet Glarner. Jetzt aber Geflüchtete in die Schweiz einzufliegen und hier aufzunehmen, würde ein falsches Signal aussenden, sagt er und warnt vor dem sogenannten «Pull-Effekt».

Die Situation müsse vor Ort angegangen werden – die Brände auf Lesbos hin oder her. «Die Bevölkerung Afrikas wächst laut Unicef alle 12 Tage um eine Million», so Glarner. Das zeige eindeutig, dass sich die Flüchtlings-Problematik nicht von der Schweiz aus lösen lasse.

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