Flucht vor den Taliban Die Schweiz soll mehr Menschen aufnehmen, doch Bern winkt ab

Von Andreas Fischer

7.9.2021

Seit der Machtübernahme der Taliban leben viele Menschen in Afghanistan in Angst um ihr Leben. Die Schweiz will trotzdem zunächst keine weiteren Geflüchteten aufnehmen.
Seit der Machtübernahme der Taliban leben viele Menschen in Afghanistan in Angst um ihr Leben. Die Schweiz will trotzdem zunächst keine weiteren Geflüchteten aufnehmen.
KEYSTONE/EPA/STRINGER

Für viele Menschen aus Afghanistan ist die Übersiedlung in einen sicheren Drittstaat lebenswichtig. Das Flüchtlingshilfswerk der UNO bittet die Schweiz nun direkt um Hilfe. Der Bund winkt ab.

Von Andreas Fischer

7.9.2021

Seitdem die Taliban in Afghanistan die Macht übernommen haben, werden die Vereinten Nationen nicht müde, bei der internationalen Gemeinschaft darum zu werben, geflüchteten Afghaninnen und Afghanen Schutz zu gewähren. Doch nach dem Abzug der letzten US-Truppen scheint die Lage der Menschen am Hindukusch wieder aus der öffentlichen Wahrnehmung zu verschwinden.

Das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR wendet sich nun direkt an die Schweiz. «Das UNHCR würde es sehr begrüssen, wenn die Schweiz eine Erhöhung des bestehenden Resettlement-Kontingents von 1600 Flüchtlingen für die Jahre 2022 und 2023 prüfen würde», zitiert der «Tages-Anzeiger» die Leiterin des UNHCR-Büros für die Schweiz und Liechtenstein, Anja Klug.



Das Flüchtlingshilfswerk wünscht sich konkret, dass die Schweiz mehr Geflüchtete aus Afghanistan aufnimmt. Doch der Bund wehrt erst mal ab. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) antwortet auf Nachfrage von «blue News»: «Ob weitere Flüchtlinge im Rahmen des Resettlement-Kontingents aufgenommen werden, entscheidet der Bundesrat in enger Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen – insbesondere dem UNHCR. Das UNHCR muss die Flüchtlingseigenschaft und eine erhöhte Schutzbedürftigkeit dieser Menschen anerkennen.»

Auch der Bundesrat hält sich bedeckt. Mitte August hatten Justizministerin Karin Keller-Sutter und Aussenminister Ignazio Cassis angesichts der Evakuierungsmissionen am Kabuler Flughafen lediglich zugesagt, die afghanischen Mitarbeiter des Schweizer Kooperationsbüros und ihre Familien aufzunehmen. «Im laufenden Resettlement-Programm wurden bisher 248 afghanische Staatsbürger aufgenommen, direkt aus Afghanistan und aus der Türkei», nennt SEM-Sprecher Lukas Rieder aktuelle Zahlen.

100’000 Menschen brauchen besonderen Schutz

Seitdem ist nicht viel passiert, ausser dass Bundesrätin Karin Keller-Sutter bei einem Sondertreffen der EU-Innenminister zum Thema Afghanistan Ende August für ein koordiniertes Vorgehen der europäischen Staaten plädierte. Auf Twitter erklärte sie, es müsse «verhindert werden, dass sich Menschen unkontrolliert auf den gefährlichen Weg nach Europa aufmachen».

Allein in diesem Jahr sind bereits mehr als eine halbe Million Menschen in Afghanistan auf der Suche nach Sicherheit und Schutz zu Binnenflüchtlingen geworden, insgesamt zählt das UNHCR 3,5 Millionen Vertriebene im eigenen Land. Dazu kommen mehr als 2,2 Millionen Menschen, die in Nachbarländer geflüchtet sind – vor allem in den Iran und nach Pakistan.



Die meisten von ihnen würden über kurz oder lang wieder in ihre Heimat zurückkehren, sagt das UNHCR. Doch etwa 100'000 besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen sind nach der Machtübernahme der Taliban auf ein Resettlement angewiesen, auf eine Umsiedlung in einen sicheren Drittstaat.

Würde die Schweiz ihr Resettlement-Kontingent erhöhen, wäre dies mehr als nur eine Geste, nämlich «ein wichtiges Zeichen der Solidarität mit den Erstaufnahme-Ländern», sagt Anja Klug vom UNHCR. Nicht zuletzt, weil sie in unmittelbarer Nachbarschaft Afghanistans die Bereitschaft fördern könne, weitere Flüchtlinge aufzunehmen.

Für das SEM ist das derzeit keine Option: «Zum einen ist die pauschale Aufnahme von weiteren Flüchtlingen nicht möglich, weil die Schweiz im Einzelfall prüfen können muss, ob die Voraussetzungen für eine humanitäre Aufnahme erfüllt sind und ob diese Personen kein Risiko für die Sicherheit der Schweiz darstellen.» Zudem seien weitere Evakuierungen nach dem Abzug der US- und NATO-Truppen aus Kabul «derzeit aus logistischen Gründen nicht möglich».

Reformierte Kirche schliesst sich UNHCR-Bitte an

Unterstützung bekommt Klug unter anderem von der Synode der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS). Angesichts der humanitären Notlage forderte die EKS die Mitwirkung im Resettlement-Programm des UNHCR.

Konkret sollte vorläufige Aufenthaltsbewilligung nachträglich auch jenen Menschen aus Afghanistan verliehen werden, deren Asylantrag zu einem früheren Zeitpunkt abgelehnt worden sei. Der Familiennachzug soll zudem neben der Kernfamilie auch erwachsene Kinder, Eltern und Geschwister umfassen.

Eine pragmatische Lösung wäre für die Schweiz kein Neuland. 2013 gab es während des Syrien-Kriegs Visa-Erleichterungen. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hatte damals die Weisung erlassen, dass Verwandte von Syrer*innen in der Schweiz, die eine Aufenthaltsbewilligung haben, erleichtert ein Besucher-Visum erhalten. Dies galt für drei Monate.

Aktuell ist eine solche Lösung nicht angedacht, verweist SEM-Sprecher Lukas Rieder auf ein Interview von Asylchef Mario Gattiker. Der Staatssekretär hatte in der «Neuen Zürcher Zeitung» darauf verwiesen, dass es 2013 um eine «temporäre Massnahme für eine relativ kleine Diaspora von weniger als 3000 Personen» ging. Nun aber gehe es um «11'000 Menschen afghanischer Herkunft, deren Verwandte potenziell von solchen Visaerleichterungen profitieren könnten. Das ist eine andere Dimension. Wir müssten mit Zehntausenden von Gesuchen rechnen».

Davon würden, so Gattiker, vor allem Personen profitieren, die nicht an Leib und Leben bedroht seien. «Wir müssen jedoch jenen helfen, die unmittelbar gefährdet sind.»