Bundesrats-Entscheid Darum nimmt die Schweiz kaum afghanische Flüchtlinge auf

Von Lukas Meyer

19.8.2021

Ein deutsches Militärflugzeug bringt deutsche Staatsangehörige und lokale Mitarbeiter ausser Landes.
Ein deutsches Militärflugzeug bringt deutsche Staatsangehörige und lokale Mitarbeiter ausser Landes.
KEYSTONE

Die Schweiz will vorerst keine zusätzlichen Flüchtlinge aus Afghanistan aufnehmen. Man müsse vernünftig und realistisch bleiben, sagt Justizministerin Karin Keller-Sutter.

Von Lukas Meyer

19.8.2021

Abgesehen von den Mitarbeitern des Kooperationsbüros und ihren Familien will die Schweiz keine Flüchtlinge aus Afghanistan aufnehmen. Diese 230 Personen erhalten humanitäre Visa und werden auf das Kontingent von 800 Resettlement-Flüchtlingen angerechnet, das die Schweiz für 2021 festgelegt hat. Dieses wurde im laufenden Jahr wegen der Pandemie noch nicht ausgeschöpft.

Dies sagten Justizministerin Karin Keller-Sutter und Aussenminister Ignazio Cassis am Mittwoch vor den Medien in Bern. Ob der Bundesrat zu einem späteren Zeitpunkt bereit ist, Kontingentsflüchtlinge aufzunehmen, liess er offen. Dies kläre aber nicht die Schweiz ab, sondern das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR).



Ist das «realistisch und vernünftig»?

Bis vor Kurzem hat die Schweiz – wie viele andere europäische Länder – auch Ausweisungen nach Afghanistan für zumutbar gehalten. Diese wurden letzte Woche ausgesetzt. Momentan sind laut Keller-Sutter 20'000 Personen aus Afghanistan in der Schweiz, bei 15'000 ist der Status unklar.

Sie verstehe die Forderungen nach der Aufnahme von Flüchtlingen, aber man müsse realistisch bleiben und vernünftig, betonte Keller-Sutter weiter. Evakuierungen seien momentan schwierig, und man müsse bei allen Personen, die einreisen, eine Sicherheitsprüfung durch den Bund garantieren können.

Anders als in der aktuellen Krise gewährte die Schweiz während des Syrien-Kriegs Visa-Erleichterungen. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) erliess 2013 die Weisung, dass Verwandte von Syrier*innen in der Schweiz, die eine Aufenthaltsbewilligung haben, erleichtert ein Besucher-Visum erhalten. Die Lösung galt für drei Monate.

Welche Möglichkeiten haben Flüchtlinge?

Keller-Sutter rechnet mit mehr Anträgen auf humanitäre Visa in den Schweizer Botschaften in Nachbarstaaten Afghanistans. Zudem können Kernfamilien Gesuche um Familienzusammenführung nach den üblichen Kriterien stellen, bei erweiterten Familienmitgliedern sei ein Gesuch im Rahmen eines humanitären Visums möglich. Gesuche von Afghan*innen werden in der Schweiz im Rahmen des üblichen Verfahren geprüft. 

Das UNHCR hat keine Einwände dagegen, dass die Schweiz ihr Personal auf das Resettlement-Kontingent anrechnet, wie ein Sprecher gegenüber CH Media sagt. Man würde es jedoch begrüssen, wenn auch die Schweiz eine Erhöhung der bestehenden Kontingente in Betracht ziehen würde.

Was machen andere Länder?

Die Situation in Afghanistan könnte zu grösseren Fluchtbewegungen führen, glaubt Keller-Sutter. Diese würden aber nicht so schnell nach Europa kommen, sondern zunächst die Nachbarländer Afghanistans erreichen.

In Pakistan etwa leben schon 1,4 Millionen afghanische Flüchtlinge. Zuletzt kamen pro Woche 30'000 mehr dazu. Zuletzt eroberten die Taliban aber einen der wichtigsten Grenzübergänge nach Pakistan.

Afghanen in einem Flüchtlingslager in Pakistan.
Afghanen in einem Flüchtlingslager in Pakistan.
KEYSTONE

Auch der Iran befürchtet eine Flüchtlingswelle aus Afghanistan. Nach der sowjetischen Invasion 1979 nahm das Land Millionen auf, das scheint nun wegen der Corona-Pandemie und der Wirtschaftskrise kaum möglich. Bisher hat es laut dem iranischen Innenministerium keine nennenswerten Fluchtbewegungen gegeben.

Viele europäische Länder reagieren ähnlich wie die Schweiz und wollen keine Flüchtlinge aufnehmen. Österreich etwa will den Grossteil der Menschen in der Region behalten. Innenminister Karl Nehammer forderte Abschiebezentren in den Nachbarländern Afghanistans.

Grossbritannien und Kanda dagegen haben die Aufnahme von je 20'000 Afghanen angekündigt. Der britische Premierminister Boris Johnson will dieses Jahr bis zu 5000 Personen aufnehmen, vor allem Frauen, Kinder und Menschen, die Verfolgung durch die Taliban fürchten müssten.

Ist Hilfe vor Ort überhaupt möglich?

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) will Afghanistan nicht verlassen – die Menschen dort bräuchten die Hilfe mehr denn je, sagte eine Vertreterin. Gemeinsam mit anderen Organisationen wolle man weiter humanitäre Hilfe leisten. Das UNHCR konzentriere sich dabei auf die Unterstützung von Vertriebenen und anderen Menschen in Not, solange man Zugang zu ihnen habe und so gut man das in dieser schwierigen, sich ständig verändernden Situation könne.



Die Schweiz werde all ihre Projekte in Afghanistan stoppen und das Geld für humanitäre Hilfe einsetzen, also dem UNHCR oder dem Welternährungsprogramm zukommen lassen, glaubt Thomas Fisler laut dem «Tages-Anzeiger». Er leitete 2019 das Kooperationsbüro der DEZA in Kabul. Dieses ist momentan geschlossen. Fisler kann sich aber vorstellen, dass es in ein bis drei Monaten wieder eröffnet wird, um die Mittel richtig zu verteilen. Auch Aussenminister Cassis versicherte, das Engagement der DEZA werde nicht aufhören.

Die Schweiz hat diplomatische Vertretungen in Nachbarländern wie Pakistan, Iran, Tadschikistan und Usbekistan, wohin viele Afghan*innen flüchten könnten. Damit hätte er gute Voraussetzungen, um vor Ort Hilfe zu leisten.

Können Afghanen momentan ausreisen?

«Wir tun alles, was in unserer Macht steht, unsere Leute in die Schweiz zu holen», erklärte Aussenminister Ignazio Cassis. «Jeder mögliche Weg wird geprüft.» Eine Evakuierung auf dem Landweg wurde offenbar auch geprüft. Laut Cassis habe sich jedoch gezeigt, dass dies ausgeschlossen sei.



Vor dem Flughafen in Kabul harren weiterhin Hunderte aus. Die Taliban haben mittlerweile einen Ring um diesen gezogen und lassen Afghanen nicht mehr passieren. Die US-Armee kontrolliert einen Teil des Flughafens, jedoch können momentan nur Militärflugzeuge für eine kurze Zeit landen.

Der ehemalige britische Entwicklungsminister Rory Stewart fordert im «Spiegel» humanitäre Korridore, um so viele Menschen wie möglich ausser Landes zu schaffen. «Wir brauchen eine internationale Koalition, die Afghaninnen und Afghanen Schutz gewährt.» Die Zahlen seien überschaubar, viel weniger, als zum Beispiel aus Syrien gekommen seien.