Chaos in AfghanistanEuropas Angst vor einer neuen Flüchtlingskrise
AP/toko
23.8.2021 - 20:28
Die Ereignisse des Flüchtlingsjahrs 2015 sollen sich durch die Entwicklung in Afghanistan nicht wiederholen. Da sind sich die meisten europäischen Spitzenpolitiker einig. Viel hängt dabei von der Türkei ab – wieder einmal.
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23.08.2021, 20:28
24.08.2021, 11:08
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Aus der Luft sieht die neue Grenzmauer zwischen der Türkei und dem Iran wie eine weisse Schlange aus, die sich durch die öde Hügellandschaft windet. Bislang deckt sie nur ein Drittel der 540 Kilometer langen Grenze ab, es gibt genügend Lücken für Menschen, um in der Dunkelheit unerkannt in die Türkei zu gelangen.
Auf dieser Schlüsselroute für Migranten von Zentralasien nach Europa ist im Vergleich zu vergangenen Jahren bisher nicht viel mehr los als in vergangenen Jahren. Aber europäische Länder und die Türkei fürchten, dass die Rückkehr der Taliban-Herrschaft in Afghanistan das ändern könnte.
Kommt nicht zu uns
Europa wird immer noch von der Krise 2015 verfolgt, als der Krieg in Syrien einen massiven Migranten-Zustrom ins Rollen brachte. Eine ähnliche Zuspitzung nach der Taliban-Machtübernahme wollen Europas Staats- und Regierungschefs unbedingt vermeiden. Die Szenen auf dem Kabuler Flughafen mit Menschen, die sich verzweifelt an eine startende Maschine klammerten, haben die Sorgen nur noch vertieft.
Die USA und ihre Nato-Verbündeten bemühen sich, Tausende afghanische Ortskräfte auszufliegen, die fürchten müssen, dass die militant-islamistischen Taliban Vergeltung an ihnen üben für ihre Zusammenarbeit mit den westlichen Truppen. Aber bis auf jene Helfer lautet die Botschaft an Afghanen, die an eine Flucht nach Europa denken: Wenn ihr gehen müsst, dann geht in Nachbarländer, aber kommt nicht zu uns.
Ziel müsse es sein, den Grossteil der Menschen in der Region zu halten, sagte der österreichische Innenminister Karl Nehammer kürzlich – und sprach damit vielen europäischen Spitzenpolitikern aus der Seele. Bei einem Innenministertreffen verwiesen EU-Vertreter vergangene Woche nach Informationen der Nachrichtenagentur AP darauf, dass die wichtigste Lehre aus der Krise von 2015 sein müsse, die Afghanen nicht sich selbst zu überlassen. Ohne rasche humanitäre Hilfe würden sie anfangen, das Land zu verlassen.
Österreich, das mit seinem Kanzler Sebastian Kurz innerhalb der EU in Sachen Migration eine eher harte Linie fährt, regte die Einrichtung von «Deportationszentren» in afghanischen Nachbarländern an – um zu ermöglichen, dass EU-Staaten Afghanen, deren Asylanträge abgelehnt werden, auch dann abschieben können, wenn man sie nicht in ihre Heimat zurückschicken kann.
Der französische Präsident Emmanuel Macron betonte, dass Europa die Folgen der Entwicklung in Afghanistan «nicht allein schultern kann» und sich selbst gegen «bedeutende irreguläre Migrationsströme» schützen müsse. Das 2020 aus der EU ausgestiegene Grossbritannien will nach eigenen Angaben dieses Jahr 5000 afghanische Flüchtlinge aufnehmen und 20'000 Afghanen im Laufe der nächsten Jahre die Ansiedlung ermöglichen.
Ansonsten hat es nur wenige konkrete Angebote europäischer Länder gegeben: Sie sagen, dass sie sich über das Ausfliegen eigener Staatsbürger und afghanischer Helfer hinaus darauf konzentrieren wollen, Afghanen innerhalb deren Landes und in benachbarten Staaten wie Iran und Pakistan zu unterstützen. Europa «sollte nicht warten, bis Leute an unserer Aussengrenze stehen», sagte die EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson. «Partnerschaften mit Drittländern werden Kern unserer Diskussion in der Europäischen Union sein. Wir müssen Strategien folgen, die sicherstellen, dass Migration in einer geordneten und einheitlichen Weise möglich ist», formulierte es EU-Ratspräsident Charles Michel.
Griechenland, dessen Inseln nahe der türkischen Küste vor sechs Jahren das Eingangstor für Hunderttausende Syrer, Iraker, Afghanen und andere waren, hat klargemacht, dass es so etwas nicht noch einmal erleben will – und die Türkei als sicheren Ort für Afghanen betrachtet, wie Migrationsminister Notis Mitarachi erklärte.
Solche Äusserungen lassen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan Rot sehen. In seinem Land halten sich bereits 3,6 Millionen Syrer und Hunderttausende Afghanen auf, und er benutzt die Drohung, sie nach Europa zu schicken, als politisches Druckmittel. «Die Türkei hat keine Verantwortung oder Pflicht, Europas Flüchtlingslagerhaus zu sein», so Erdogan kürzlich.
Insgesamt ist die Haltung gegenüber Migranten in Europa nach der Krise von 2015 härter geworden, was auch zum Aufstieg von Rechtsaussen-Parteien wie der AfD in Deutschland geführt hat. Auch in der Türkei werden Migranten aus Syrien und Afghanistan, einst als muslimische Brüder behandelt, jetzt vor dem Hintergrund wachsender Inflation und Arbeitslosigkeit im Land mit Misstrauen betrachtet.
Beobachtern zufolge gibt es derzeit keine Anzeichen für eine beginnende Massenbewegung über die iranisch-türkische Grenze. Nach Angaben aus Ankara wurden in diesem Jahr bislang 35'000 Afghanen beim illegalen Grenzübertritt abgefangen, im gesamten vergangenen Jahr waren es 50'000. Das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge schätzt, dass 90 Prozent der 2,8 Millionen afghanischen Flüchtlinge ausserhalb ihrer Heimat im Iran und Pakistan leben. Im Vergleich dazu haben in den vergangenen zehn Jahren etwa 630'000 Afghanen in EU-Ländern Asyl beantragt, die meisten davon in Deutschland, Ungarn, Griechenland und Schweden.
Jan Egeland, Generalsekretär des Norwegischen Flüchtlingsrates, einer Hilfsorganisation, hält es nicht für zwingend, dass die Taliban-Machtübernahme eine neue grosse Flüchtlingswelle auslöst. Viel hänge davon ab, ob die Taliban eine Fortsetzung von humanitärer Arbeit und Entwicklung erlaubten, sagte er der AP. Aber wenn öffentliche Dienstleistungen zusammenbrächen und es zu einer grösseren Nahrungsmittelkrise komme, «dann wird es mit Sicherheit eine Massenbewegung von Leuten geben».