Milliardenkosten durch RotstiftEinsparungen bei Pflegekräften gefährden Patientenleben
tafi
13.10.2020
Am falschen Ende gespart: Um Kosten zu senken, stellen Spitäler und Heime immer mehr schlecht qualifiziertes Pflegepersonal an. Der Sparzwang kommt Patienten und Gesundheitssystem teuer zu stehen.
Das Urteil von Gabriela Steiner ist knallhart: «Eine sichere Pflege ist nicht mehr gewährleistet.» Die diplomierte Pflegefachfrau berichtet bei SRF von untragbaren Zuständen in Schweizer Spitälern und Pflegeheimen. Es fehle an Zeit und Personal, um sicher zu arbeiten – und das in einem Bereich, wo Fehler und Nachlässigkeiten nicht zu kleineren Sachschäden führen, sondern menschliches Leid verursachen.
«Wegen Personalmangels läuft bei uns durchschnittlich mindestens einmal pro Woche etwas schief», wird eine andere Pflegeperson bei SRF zitiert. Zudem würden Spitäler und Pflegeheime offene Stellen immer häufiger mit günstigen Hilfskräften besetzen, anstatt gut ausgebildete Fachkräfte einzustellen.
Doch die vermeintlichen Kosteneinsparungen sind auf lange Sicht teuer. SRF und das Konsumentenmagazin «K-Tipp» haben in einer gemeinsamen Recherche herausgefunden, dass der Qualitätsverlust in der Pflege fatale und finanziell gravierende Folgen hat. In der Schweiz liessen sich mehr als 200 Leben retten und etwa 1,5 Milliarden Franken einsparen, wenn wieder mehr diplomiertes Personal eingestellt würde, wie Wissenschaftler herausgefunden haben.
Zusätzliche Kosten durch Einsparungen
«Bei der Zusammensetzung eines Pflegeteams in Spitälern braucht es mindestens 75 bis 80 Prozent diplomierte Pflegefachleute. Geht es tiefer, kann es gefährlich werden», warnt Yvonne Ribi, Geschäftsführerin des Schweizer Berufsverbandes der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK), bei SRF. Derzeit liege der Durchschnitt bei 70 Prozent.
Gestützt werde Ribis Einschätzung von einer vom Pflegefachverband in Auftrag gegebenen Studie des Ökonomen Michael Gerfin von der Universität Bern und des Pflegewissenschaftlers Michael Simon von den Universitäten Basel und Bern. Demnach erhöhe sich die jährliche Sterbewahrscheinlichkeit in Spitälern um 243 Todesfälle, wenn «der Anteil des diplomierten Pflegepersonals unter 70, 75 Prozent geht und die Pflegestunden pro Patiententag unter zehn Stunden sinken».
Modellrechnung auf Basis von 1,2 Millionen Patientendaten würde zudem zeigen, dass zu gering ausgebildetes Pflegepersonal zusätzliche Kosten verursacht. Durch Investitionen in Fachkräfte liessen sich in Spitälern etwa dank kürzerer Aufenthalte konkret 220'000 Bettentage pro Jahr einsparen – das entspricht bis zu 500 Millionen Franken.
Spitäler unter grossem Druck
Eine weitere Milliarde Franken an Kosten liesse sich vermeiden, wenn Pflegeheimen und Spitex nicht auf teureres Fachpersonal verzichten würden. Fehlendes Fachwissen führe, sagt Simon, zu unnötigen Spitaleinweisungen: «42 Prozent der Hospitalisierungen wären potenziell vermeidbar.»
Ein Qualitätsproblem in Spitälern will Anne-Geneviève Bütikofer, Direktorin des Spitalverbandes H+, nicht erkennen. In einer Stellungnahme bei SRF erkennt sie die Ergebnisse der Studie gleichwohl an, weist aber auch darauf hin, dass es auf dem Arbeitsmarkt nicht genug diplomiertes Pflegefachpersonal gebe. «Ausserdem braucht es die finanziellen Mittel, um diese Leute anzustellen.» Man nehme die Verantwortung wahr, stehe aber unter «sehr grossem Druck, die Kosten zu senken.»