Medikamenten-Mangel Chronisch Kranke bangen um ihre Gesundheit – und ihren Job

Von Andreas Fischer

4.2.2023

Bei so vielen Medikamenten wie nie zuvor herrschen Engpässe. Betroffen sind auch viele chronisch Kranke.
Bei so vielen Medikamenten wie nie zuvor herrschen Engpässe. Betroffen sind auch viele chronisch Kranke.
Waltraud Grubitzsch/dpa

Die angespannte Versorgungslage ist mehr als ein Politikum: Für chronisch Kranke können fehlende Medikamente dramatische Konsequenzen haben. Im schlimmsten Fall droht Betroffenen gar der Jobverlust.

Von Andreas Fischer

4.2.2023

Seit Jahren verschlechtert sich die Versorgungslage mit Medikamenten. Schmerzmittel sind knapp, Antibiotika ebenso, dazu Reisemedizin und oral verabreichte Opioide. Mittlerweile hat sich die Lage so sehr verschärft, dass der Bund sie als «problematisch» einstuft und eine Taskforce gegründet hat. Im Fokus stehen dabei bislang vor allem lebenswichtige Medikamente und die Akutversorgung.

Dieser Ansatz greift zu kurz, sagt Spitalapotheker Enea Martinelli. Bereits im vergangenen Frühjahr hatte Martinelli das Problem in der «Schweizerischen Ärztezeitung» adressiert: «Wenn Blutdrucksenker, Psychiatriemedikamente und Epilepsie-Präparate fehlen, hat das ebenfalls Konsequenzen für die Patien­tinnen und Patienten.»

Gebessert hat sich bis heute nichts. Im Gegenteil: «Bei chronisch Kranken, die viele Medikamente einnehmen müssen, ist die Wahrscheinlichkeit heute gross, dass für ein bis zwei Präparate Ersatzlösungen gesucht werden müssen», warnte Martinelli im «Tages-Anzeiger».

Für die Betroffenen ist es in der Tat problematisch, wenn sie ihre Medikamente nicht mehr in Apotheken und Arztpraxen bekommen, wie Dominique Meier im Gespräch mit blue News berichtet.

Fehlt ein Medikament, kann der Job in Gefahr sein

Meier ist Geschäftsführerin von Epi-Suisse, der Patientenvereinigung für Menschen mit Epilepsien. Patientinnen und Patienten mit einer Epilepsie sind darauf angewiesen, täglich Medikamente zu nehmen. Immer dieselben und in gleich bleibender Dosierung. Sind die Medikamente nicht verfügbar, führe das zu gravierenden Problemen, sagt Meier und berichtet von einer Betroffenen, die aus der Not heraus ihre Dosierung eigenmächtig reduziert hat.

«Für sie war es entscheidend, dass sie die Medikamente an ihren Arbeitstagen nehmen konnte», erzählt Meier. An ihren freien Tagen habe die Frau die Dosierung halbiert, um über die Runden zu kommen. «Das ist natürlich medizinisch überhaupt nicht zu empfehlen. Die Frau musste abwägen, wann sie allfällige Anfälle in Kauf nimmt und hat sich in ihrer Freizeit komplett eingeschränkt.»

Meiers Beispiel zeigt, wie prekär die Lage für Betroffene sein kann, wenn Medikamente fehlen, auch wenn sie derzeit noch nicht unter die Meldepflicht des Bundes fallen, weil sie nicht als lebenswichtig gelten oder für die Akutversorgung benötigt werden.

«Es ist völlig undurchschaubar, was als lebensnotwendig taxiert wird. Wenn man bedenkt, welche Auswirkung es hat, wenn etwa Epilepsie-Medikamente fehlen, dass man zum Beispiel den Beruf nicht mehr ausüben kann, dann frage ich mich schon, wieso ist das nicht lebensnotwendig?», kritisiert Meier.

Manche Medikamente können nicht einfach ersetzt werden

Was vielen Menschen nicht bewusst ist: Wer langzeitig auf bestimmte Medikamente eingestellt ist, kann nicht einfach das Präparat wechseln. Bei Kopfschmerzen mag man schon mal ein Paracetamol durch ein Ibuprofen ersetzen. Bei Epilepsien und anderen chronischen Krankheiten ist das nicht möglich.

«Antiepileptika», erklärt Dominique Meier, «sind Medikamente, die man als Langzeittherapie nimmt. Wenn man anfängt, ein solches Medikament zu nehmen, muss man es erst in den Körper einschleichen – das heisst, es langsam aufdosieren, bis sich der Organismus an den Wirkstoff gewöhnt hat. Verträgt man ein Medikament nicht oder hat es nicht den gewünschten Erfolg, dann wechselt man es. Dann aber muss man das alte Medikament erst wieder ausschleichen und das neue einschleichen.» Diese Prozesse dauern mehrere Wochen oder gar Monate.

Lieferengpässe bei bestimmten Präparaten lassen sich also nicht von heute auf morgen durch andere Medikamente kompensieren. «Wir empfehlen daher allen Betroffenen, einen gewissen Lagerbestand vorrätig zu haben», sagt Meier. «Wenn das eigene Medikament nicht mehr lieferbar ist, können es die Patientinnen und Patienten teilweise abfedern. Aber nicht für ewig.»

Epilepsie-Patienten könnten ihre Medikamente nun mal nicht so kaufen, wie andere Kopfschmerztabletten: Nämlich nach der letzten Tablette einfach die leere Packung ersetzen. Sie müssen sich bei Engpässen zu helfen wissen. Das ist im Alltag nicht immer leicht.

Gravierende soziale Konsequenzen drohen

Wenn Tabletten mit der richtigen Dosierung nicht verfügbar sind, dann können etwa höher dosierte Tabletten mit einem Tablettenschneider aufgeteilt werden, sagt Meier. «Oder Patienten müssen statt einer 200-mg-Tablette 20 Tabellen mit je zehn Milligramm Wirkstoff schlucken: Das aber kann sehr unangenehm sein.»

Dosierungsengpässe aber sind nur ein vergleichsweise geringes Problem. «Wenn eine ganze Wirkstoffgruppe nicht verfügbar ist, müssen die Betroffenen substituieren und teilweise auf Generika zurückgreifen», erklärt Dominique Meier. Diese aber hätten oftmals eine leichte Wirkungsabweichung, was vom Gesetzgeber und der Zulassungsbehörde erlaubt sei. Sie können auch andere Hilfsstoffe beinhalten. Das aber bedeutet: Menschen, die ein Originalpräparat gut vertragen, vertragen nicht immer das entsprechende Generikum – und umgekehrt.

«Man hat also einerseits das Problem des Ein- und Ausschleichens und kämpft unter Umständen mit stärkeren Nebenwirkungen. Gravierender aber ist: Das Ersatzmedikament muss nicht zwangsläufig den gleichen Effekt haben. Wer vorher anfallfrei war, kann also plötzlich wieder Anfälle bekommen.»

Eine, wie der Bund sie bezeichnet, «problematische Versorgungslage», kann für die Betroffenen enorme soziale Konsequenzen haben. «Bei Anfallfreiheit und unauffälligem EEG haben die meisten Epilepsie-Patienten den Fahrausweis, sofern medizinisch nichts dagegen spricht», erläutert Meier. Bei einem Anfall allerdings ist er sofort weg: «Für Menschen, die das Auto für den Weg zur Arbeit, zur Berufsausübung oder für die Alltagsgestaltung der Familie benötigen, ist das eine enorme Einschränkung.»

Komme hinzu, dass viele anfallfreie Patienten niemandem von ihrer Krankheit erzählen, «weil es niemanden etwas angeht.» Sei ihr normales Medikament aber nicht verfügbar, steige das Risiko für einen Anfall: «Die Menschen müssen dann plötzlich ihr ganzes Umfeld und womöglich ihre Arbeitgeber über ihre Epilepsie aufklären.»

Bund will Meldepflicht und Pflichtlager erweitern

Auch wenn sich bei Antiepileptika laut Meier die Versorgungslage mittlerweile bessert: Einige Betroffene, die ihr Medikament substituieren mussten, können bei neuer Verfügbarkeit nicht einfach zurückkehren. «Es ist in einzelnen Fällen möglich, dass man nicht mehr gut auf das alte Präparat oder die alte Dosierung reagiert», sagt Meier. «Es kommt vor, dass Menschen ein Medikament ausschleichen und es nach dem neuerlichen Einschleichen nicht mehr dieselbe Wirkung hat. Die Anfallfreiheit ist dann womöglich verloren.» Daher gelte bei erfolgreich auf ein Medikament eingestellten Patientinnen und Patienten eigentlich die Devise: Never change a winning team.

Für Dominique Meier ist es wichtig, dass sich die Politik bewusst macht, wie gross die Gefährdung durch fehlende Wirkstoffe und Medikamente wirklich ist. «Ich würde mir wünschen, dass die Meldepflicht für Medikamente überprüft und ein klarer Prozess definiert wird, was die Pflichtlager gehört.»

Dieses Signal scheint in Bern angekommen zu sein: Der Bund will die Meldepflicht und die Pflichtlager für Medikamente ausweiten, wie Christoph Amstutz, Leiter des Fachbereichs Heilmittel im Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL), gerade bei Radio SRF sagte. Man habe die Notwendigkeit erkannt, unter anderem Antiepileptika und Parkinson-Medikamente in die Pflichtlager aufzunehmen. Die entsprechende Verordnung wolle man nun dem Bundesrat unterbreiten.