Von wegen aus dem Volk Warum bei der Volksinitiative nicht drin ist, was drauf steht

Von Anna Kappeler

12.9.2020

Ein Lastwagen kippt eine Ladung von 8 Millionen 5-Rappen-Stücken im Wert von 400'000 Franken auf den Bundesplatz. Diese Aktion fand bei der Unterschriftenübergabe der Volksinitiative «Bedingungsloses Grundeinkommen» statt.
Ein Lastwagen kippt eine Ladung von 8 Millionen 5-Rappen-Stücken im Wert von 400'000 Franken auf den Bundesplatz. Diese Aktion fand bei der Unterschriftenübergabe der Volksinitiative «Bedingungsloses Grundeinkommen» statt.
Bild: Keystone

Laut einer neuen Studie steckt in der Volksinitiative kaum «Volk» darin. Warum das so ist und was das für die direkte Demokratie bedeutet, erläutert Mitautorin Nadja Braun Binder im Interview.

Die Volksinitiative gibt denjenigen Personen ein Gehör, die im politischen Entscheidungsprozess regelmässig übergangen werden. Doch ist das im Alltag wirklich so? Eine neue Studie kommt zu einem anderen Schluss. Wir haben bei deren Mitautorin Nadja Braun Binder, Professorin für öffentliches Recht an der Universität Basel, nachgehakt.

Die Schweiz ist stolz auf ihre direkte Demokratie und die Volksinitiative. Laut Ihrer Studie steckt aber gar nicht viel ‹Volk› in der Volksinitiative. Verspricht das Instrument mehr, als es halten kann?

Nein, das nicht. Aber man muss die Volksinitiative differenzierter anschauen als man bisher dachte.

Das heisst?

Es gibt die klassische Volksinitiative noch immer, bei der Privatpersonen engagiert für eine Sache einstehen. Jüngstes Beispiel: Die Hornkuhinitiative.

Aber sie ist die Ausnahme, welche die Regel bestätigt?

Kann man so sagen. 80 Prozent der Volksinitiativen werden von Parteien oder von anderen etablierten Verbänden und Organisationen lanciert. Dank unserer Studie konnten wir das sichtbar machen. Und: Das ist keine neue Entwicklung, seit 1891 werden Initiativen immer wieder von politischen Parteien lanciert.

Ist das gut oder schlecht?

Ich will das nicht werten. Das ist nicht meine Aufgabe. Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, diesen Fakt aufzuzeigen.

Wissenswertes zur Volksinitiative für Fortgeschrittene

Seit der Einführung auf Bundesebene im Jahr 1891 wurden 470 eidgenössische Volksinitiativen lanciert (Stand: Ende März 2019). Davon sind laut der Studie 334 Initiativen zustande gekommen. 100 wurden zurückgezogen, 216 schliesslich Volk und Ständen zur Abstimmung unterbreitet. In der Volksabstimmung angenommen wurden nur gerade 22 Initiativen.

Anders gefragt: Was würde der Schweiz ohne Volksinitiative fehlen?

In einer Demokratie ist es wichtig, dass sich alle verbindlich in die Politik einbringen können, wenn sie es wollen. Auf gut Deutsch: sich Luft machen können. Die Volksinitiative kann ein ‹Bottom-up›-Anliegen sein, von unten nach oben. Zu nennen ist hier die bereits erwähnte Hornkuhinitiative, welche der Bergbauer Armin Capaul fast im Alleingang auf die Füsse gestellt hat. In Erinnerung bleibt zudem etwa die Volksinitiative für die Unverjährbarkeit sexueller Straftaten. Auch dahinter stehen wenige Privatpersonen, die sich zur Gruppe ‹Marche Blanche› zusammengeschlossen haben.

«80 Prozent der Volksinitiativen werden von Parteien oder von anderen etablierten Verbänden und Organisationen lanciert.»

Trotzdem: Wenn ich eine Volksinitiative einreichen will, tue ich gut daran, mindestens jemanden aus dem Parlament im Boot zu haben?

Jein, eine Volksinitiative wird aus verschiedenen Motivationen heraus lanciert. Sehr oft geschieht das quasi ‹Top down›, von oben nach unten. Gemeint ist damit, dass etablierte Akteure Volksinitiativen lancieren. Haben Sie Leute im Boot, welche vernetzt sind und die politischen Abläufe kennen, ist das sicher nicht schlecht. Je nach Thema kann es aber auch genauso wichtig sein, glaubwürdig zu bleiben. Aktuelles Beispiel? Bei der Pflegeinitiative kommt die Hälfte der Initianten aus Pflegeberufen und dem Gesundheitswesen. Bei aller Empirie: Jede Initiative hat eine eigene Geschichte. Es gibt kein Patentrezept.

Zur Person
Bild: ZvG

Nadja Braun Binder ist Jus-Professorin an der Uni Basel und Mitautorin der Studie «Die Volksinitiative als (ausser-)parlamentarisches Instrument. Eine Untersuchung der Parlamentsmitglieder in Initiativkomitees und der Trägerschaft von Volksinitiativen.» Diese entstand in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA).

Sie haben dennoch eine Häufung von involvierten Parlamentsmitgliedern festgestellt?

Minderheitsanliegen im Parlament werden oft via Volksinitiative wieder eingespiesen, ja. So geschehen beispielsweise beim Tabak-Werbeverbot. Dieses wurde im Parlament behandelt. Als man damit nicht weiterkam, haben einzelne Parlamentarier offen gesagt: Zieht ihr nicht mit, lancieren wir eine Volksinitiative dazu. Das haben sie inzwischen auch gemacht.

Also ist es ohne Hilfe aus dem Parlament schwierig?

Ich würde es eher umgekehrt formulieren: Hilfe durch Parlamentsmitglieder kann ein Vorteil sein.

«In einer Demokratie ist es wichtig, dass sich alle verbindlich in die Politik einbringen können, wenn sie es wollen. Auf gut Deutsch: sich Luft machen können.»

Welche Parteien sind besonders aktiv beim Einreichen von Volksinitiativen?

Die beiden Polparteien SVP und SP. Interessant ist hier: Die SVP ist nicht bereit, ihre Initiativen während des parlamentarischen Prozesses zurückzuziehen. Andere Parteien sind da verhandlungsbereiter.

Seit der Einführung 1891 bis März 2019 wurden 470 eidgenössische Volksinitiativen lanciert, jedoch nur deren 22 angenommen …

Ohne Kalkül keine Politik … Ein Interesse der Initianten kann auch sein: Ich lanciere das Thema auf der politischen Agenda, auch wenn es (noch) nicht mehrheitsfähig ist. Erfolgreich so geschehen beim bedingungslosen Grundeinkommen. Dieses kennt nun jedes Kind, obwohl es an der Urne haushoch abgeschmettert wurde.



Sie haben 346 eidgenössische Volksinitiativen untersucht. Was ist das überraschendste Ergebnis dabei?

Eine Person aus dem Parlament sass im Laufe ihrer Karriere in 18 Initiativkomitees. Wer das war, spielt keine Rolle – wir haben die Auswertungen bewusst anonym durchgeführt.

Die Bevölkerung wächst – müsste die Anzahl von 100'000 nötigen Unterschriften angepasst werden?

Sechs Jahre nach der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 wurde die Anzahl von 50'000 auf die heutigen 100'000 verdoppelt. Seither verlief jede politische Diskussion darüber erfolglos. Die 100'000 zu erreichen, ist und bleibt eine Knacknuss.

Volksinitiative – von wegen aus dem Volk

  • Untersucht wurden in der Studie 346 eidgenössische Volksinitiativen, die im Zeitraum von Juli 1973 bis März 2019 lanciert worden waren.
  • Dabei stammen 80 Prozent der Volksinitiativen von Parteien und anderen etablierten politischen Akteuren.
  • 77 Prozent aller Volksinitiativen mit Parlamentsmitgliedern im Komitee sind zustande gekommen – bei denen ohne sind es nur gerade 36 Prozent.
  • In 70 Prozent aller Komitees gibt es mindestens ein (aktives, ehemaliges, zukünftiges) Parlamentsmitglied.
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