Ein Jahr Corona in der Schweiz «Solch eine Situation haben die wenigsten je erlebt»

Von Gil Bieler

23.2.2021

Die Coronakrise stellt alte Gewissheiten auf den Kopf: Die Polizei ermahnt Fasnächtler in Basel.
Die Coronakrise stellt alte Gewissheiten auf den Kopf: Die Polizei ermahnt Fasnächtler in Basel.
Bild: Keystone/Urs Flüeler

Vom Büezer bis zur Bundesrätin, nach einem Jahr Dauerkrise sind alle coronamüde. Wie bewahrt man sich den Optimismus? Und wer leidet besonders stark unter der Pandemie? Psychologe Andreas Krafft weiss es. 

Die Pandemie bestimmt in der Schweiz seit einem Jahr unseren Alltag. Herr Krafft, wie oft schleicht sich bei Ihnen der Covid-Blues ein?

Ich merke natürlich wie alle anderen auch eine gewisse Ermüdung. Gleichzeitig ist gerade in meinem Fachbereich spürbar, dass sich die Menschen in der Krise vermehrt für das Thema Hoffnung interessieren, nach Hoffnung suchen.

Sie sind ja auch in einer speziellen Position, quasi als Berufsoptimist.

Das stimmt. Wenn jemand in ein psychisches Loch fällt, versuche ich, ihm oder ihr wieder herauszuhelfen. Man kann den Menschen aufzeigen, dass es neue Möglichkeiten und Perspektiven gibt, sie auf ihre eigenen Stärken vertrauen sollen, dass sich in fast jeder Situation etwas Gutes finden lässt und die Zukunft immer auch positive Aspekte bereithält – selbst wenn die aktuelle Situation als belastend empfunden wird.

Zur Person
zVg

Andreas Krafft ist Vorstandsmitglied von SWIPPA (Schweizerische Gesellschaft für Positive Psychologie) und Co-Präsident von Swissfuture, der Schweizerischen Vereinigung für Zukunftsforschung. Er ist Herausgeber des jährlichen Hoffnungsbarometers. Als Dozent an der Universität St. Gallen lehrt er unter anderem «Psychologie der Hoffnung und des Optimismus».

Ist die Pandemie eine einmalige Belastungsprobe für unsere Gesellschaft?

Solch eine Situation haben die wenigsten in der Schweiz je einmal erlebt. Nur die älteste Generation hat in der Nachkriegszeit einen längeren Zeitraum mit starken Belastungen gelebt. Wir kennen solche Krisen kaum, darum hat sie uns so unvorbereitet erwischt. Menschen in Ländern Lateinamerikas oder Asiens sind Krisen eher gewohnt als wir in der Schweiz, wo alles immer vorhersehbar und planbar ist. Wir mussten erst einmal lernen, mit dieser Unsicherheit umzugehen. Gleichzeitig haben wir im Hoffnungsbarometer 2020 gesehen, dass Unsicherheit nicht nur negativ ist.

Wie soll man das verstehen?

Manche Menschen sind in Existenznöte geraten, was natürlich ausserordentlich belastend ist. Doch andere haben in der Krise auch Mut gefasst, um neue Dinge auszuprobieren. Sie haben zum Beispiel den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt oder eine Weiterbildung begonnen. Frei nach dem Motto: «Wenn sowieso alles unsicher ist, dann probiere ich etwas Neues aus.»

Dafür braucht es viel Mut.

Schon, aber andererseits: In einer Situation, in der ohnehin alles auf den Kopf gestellt wird, ergibt sich auch die Chance, alte Gewohnheiten zu hinterfragen. Man fragt sich: Was ist mir wirklich wichtig im Leben? Und: Bin ich in meinem Job überhaupt zufrieden? Das würde man nicht tun, wenn die alte Komfortzone intakt geblieben wäre. Ich kenne viele Leute, die sich daher gesagt haben: Jetzt erst recht! Es ist dann also nicht nur Mut, sondern auch eine natürliche Konsequenz davon, dass wir dazu gezwungen sind, die Dinge infrage zu stellen.

Gibt es bestimmte Bevölkerungsgruppen, die besonders unter der Krise leiden?

Wir haben festgestellt, dass Frauen im Allgemeinen eine stärkere Stressbelastung erlebt haben als Männer. Gleichzeitig haben Frauen aber mehr Widerstandsressourcen entwickelt, um mit diesen Belastungen positiv umzugehen. Sie haben sich zum Beispiel mehr auf das konzentriert, was in ihrem Handlungsspielraum liegt und das dann auch getan. Ausserdem haben sie sich häufiger Unterstützung geholt. Und Frauen konnten die Situation besser annehmen als Männer und das Beste daraus machen. Ausserdem zeigte sich, dass alleinstehende oder alleinerziehende Personen stärker belastet waren – wahrscheinlich, weil ihnen die Unterstützung aus dem sozialen Umfeld fehlt.

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Was ist mit Jugendlichen?

Jugendliche und junge Erwachsene haben die Belastung stärker erlebt als ältere Menschen – was interessant ist, da das Virus ja eine grössere Gefahr für ältere Personen darstellt. Dennoch haben ältere Menschen sich wohl aufgrund ihrer Lebenserfahrung, und weil sie schon früher Krisen meistern mussten, als resilienter erwiesen. Jungen fehlt zum einen diese Erfahrung, und sie leiden zum anderen auch mehr unter der sozialen Isolation. Gerade in der Ausbildung oder in der Lehre sucht man den sozialen Kontakt, in diesem Alter definiert man sich auch über seine sogenannte Peergroup, also den Freundeskreis.

Die jüngste Altersgruppe weist im Hoffnungsbarometer auch den tiefsten Hoffnungswert auf: Was heisst das konkret?

Die jüngste Generation blickt allgemein am pessimistischsten in die Zukunft. Sie erwartet, dass die Zukunft schlechter sein wird als die Gegenwart – nicht auf individueller Ebene, sondern was die Gesellschaft, die Schweiz und die Welt betrifft. Dann kam noch die Corona-Krise dazu – das führt dazu, dass die jungen Menschen am wenigsten in der Lage sind, die Situation mit einer gewissen Gelassenheit zu betrachten.

«Die jüngste Generation blickt am pessimistischsten in die Zukunft»

Was sind denn die Gründe für diesen Pessimismus?

Zum einen die Sorge wegen des Klimawandels, zum anderen aber auch das Thema Wohlstand: Die junge Generation geht davon aus, dass es schwer sein wird, das Wohlstandsniveau ihrer Eltern zu halten. Sie glauben nicht, dass ihnen nochmals ein Wohlstandszuwachs gelingen kann.

In letzter Zeit nahm der Protest gegen die Corona-Massnahmen zu: Fasnächtler trafen sich trotz Verbot, Beizen öffneten ihre Terrassen. Ist in der Stimmung im Volk ein kritischer Punkt erreicht?

Es gibt Menschen, die in Existenznöte geraten sind. Denn Kurzarbeit und Hilfszahlungen des Bundes können in vielen Fällen den wirtschaftlichen Schaden nicht aufwiegen. Diese Personengruppen werden von der berechtigten Angst angetrieben. Bei den Fasnächtlern dagegen ist es wohl eher eine Trotzhaltung: «Wir wollen unser Leben, so wie wir es gewohnt waren, zurückhaben.» Wir mussten uns in dieser Krise alle längere Zeit in Verzicht üben, vielleicht sind wir uns das in der modernen Gesellschaft schlicht nicht mehr gewohnt. Trotzdem zeigt sich hier ein Spagat: Wie stark will man seine persönlichen Freiheiten gewichten – und wie stark das Allgemeinwohl? Wir werden sehen, wie der Bundesrat bei der Öffnung entscheidet. Aber jede Lösung dürfte schwierig sein.

Auf welche Bewältigungsstrategien greifen die Schweizerinnen und Schweizer in der Krise am häufigsten zurück?

Da gibt es eine Vielzahl, ich beschränke mich auf die beiden wichtigsten Strategien. Erst mal ist da die Akzeptanz: anerkennen, dass es eine schwierige Situation ist und es keine schnelle Lösung gibt. Das bedeutet aber nicht, dass man einfach alles gleichgültig hinnimmt, sondern dass man versucht, das Beste aus der Situation zu machen. Im Wallis konnte ich zum Beispiel gerade sehen, mit welchen kreativen Mitteln die Leute ihr Geschäft am Laufen halten.

Und was ist die zweite Strategie?

Die Situation positiv angehen, Pläne erstellen und sich auf das konzentrieren, was man zum Beispiel in der Familie oder im Quartier unternehmen kann. Man kann sich etwas vornehmen im Sinne von: «Was wollen wir tun, wenn es im März Lockerungen gibt?» Das kann auch nur ein Ausflug in der Familie sein. Es geht einfach darum, aktiv zu werden und etwas zu tun – auch wenn das nicht unbedingt alle Probleme löst, so hält es einen doch aktiv und gibt Perspektiven.

Paare im Vorteil: Alleinstehende haben laut Andreas Krafft besonders unter der Pandemie zu leiden. Im Bild: Ein Pärchen am Neuenburgersee. 
Paare im Vorteil: Alleinstehende haben laut Andreas Krafft besonders unter der Pandemie zu leiden. Im Bild: Ein Pärchen am Neuenburgersee. 
Bild: Keystone/Anthony Anex

Auch die Natur scheint einen positiven Einfluss zu haben.

Ja. Wir haben die Leute gefragt, wo sie Hoffnung schöpfen. Und wie bereits im Vorjahr wurde die Natur an erster Stelle genannt, noch vor der Familie. Die Menschen haben also die Möglichkeit genutzt, rauszugehen und den Kopf zu lüften. Das eröffnet neue Perspektiven.

In einer neuen Umfrage des Forschungsinstituts Link gaben über die Hälfte der Teilnehmer*innen an, ihre Sorgen und Ängste hätten in der Krise zugenommen. Laut Ihrer Umfrage verbesserten sich das psychische und körperliche Gesundheitsbefinden. Ein Widerspruch?

Das würde ich nicht sagen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Hoffnungsbarometer bezeichneten die Stressbelastung als mittelgross – die Sorgen und Ängste haben also durchaus zugenommen. Doch gehen wir noch einen Schritt weiter und fragen, wie die Leute damit umgegangen sind. Sie können sich das so vorstellen: Wenn ich im Verlauf eines Jahres mit grossen Herausforderungen zu kämpfen hatte, diese aber überwinden konnte, dann bin ich am Schluss ja zufrieden – nicht, weil es mir die ganze Zeit über gut ging, sondern weil ich erkannt habe, dass ich auch schwierige Situationen meistern kann. Dann erlebt man eine Krise nicht nur negativ, sondern in der Tat auch positiv. Gleichzeitig gibt es aber auch Menschen, die in ein emotionales Loch fallen oder gar depressiv werden. Wir sprechen hier von 10 bis 15 Prozent.

Wenn jemand die Hoffnung verliert: Ab welchem Zeitpunkt sollte man sich professionelle Hilfe holen?

Als Faustregel gilt: Wenn depressive Verstimmungen, Gereiztheit und Antriebslosigkeit einen Monat lang anhalten.

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