Debatte um Corona-StrategieIst die vierte Welle noch zu stoppen?
Von Maximilian Haase
21.7.2021
Die Fallzahlen steigen, die Impfbereitschaft sinkt – trotzdem stehen keine Verschärfungen zur Diskussion. Der Bund erhält für seine Strategie viel Rückhalt – es gibt aber auch Bedenken, was die Impfungen angeht.
Von Maximilian Haase
21.07.2021, 18:12
21.07.2021, 19:06
Maximilian Haase
Die Corona-Fallzahlen in der Schweiz steigen, die Delta-Variante befindet sich auf dem Vormarsch und auch die Impfbereitschaft ist ins Stocken geraten. Nach zuvor steigender Hoffnung auf ein absehbares Ende der Pandemie fiel die Einschätzung der Taskforce an der gestrigen Medienkonferenz eher ernüchternd aus.
Patrick Mathys, Leiter Sektion Krisenbewältigung im Bundesamt für Gesundheit (BAG), warnte, dass die Fallzahlen bald wieder die 1000 überschreiten könnten. Zudem betrage der Anteil der Delta-Variante an den gemeldeten Fällen inzwischen 75 Prozent.
Sollten die Impfanstrengungen nachlassen, so Taskforce-Vizepräsidentin Samia Hurst, könnte man «nochmals eine Welle erleben, die höher war als im letzten Herbst». Stecke sich zudem ein Grossteil der Nichtgeimpften an, könne «die Anzahl Kranker, Hospitalisierter und Toter in Zukunft höher sein, als es bisher in der Pandemie der Fall war».
Hurst verwies darauf, dass es trügerisch sein könne, sich mit Blick auf die Massnahmen auf die derzeit noch sehr niedrige Zahl der Hospitalisationen zu verlassen. Mit einer schnellen Zunahme der Ansteckungen könnten die Einlieferungen ins Spital ebenso schnell zunehmen, so die Wissenschaftlerin.
Was also tun in einer Situation, in der die Menschen wieder in Restaurants und Clubs gehen, wieder gemeinsam in den Büros arbeiten und oft ohne Maske miteinander in Kontakt kommen? Kann die vierte Welle noch verhindert werden? Braucht die Schweiz wieder schärfere Massnahmen oder ist Abwarten angezeigt? Letztere Strategie scheint der Bund derzeit noch zu fahren.
Nicht mit Vorjahr zu vergleichen
«Politisch ist das gesendete Signal durchaus richtig», meint Nationalrat Philippe Nantermod von der FDP zu «blue News». Es zeige, dass «die Massnahmen zur Einschränkung von Freiheiten nur als letztes Mittel ergriffen werden, dass wir aber bereit sind zu handeln». Dies sei für die Glaubwürdigkeit des Systems wichtig.
Sollte es zu neuen Einschränkungen kommen, müssten diese «dann aber gezielter ausfallen im Vergleich zu den Massnahmen vor der Impfung», sagt Nantermods Parteikollege Damian Müller auf Anfrage. Flächendeckende Lockdowns seien keine Lösung mehr.
Die Situation sei nicht mit der vor einem Jahr zu vergleichen, als es noch keine Impfung gab, meint auch die Gewerkschaft Syna. «Um die Situation mittelfristig in den Griff zu bekommen, erwarten wir vom Bund, dass die Impfkampagne intensiviert wird», so eine Sprecherin zu «blue News».
Die derzeitigen Massnahmen seien in der jetzigen Situation angemessen, «doch die Durchsetzung muss verbessert werden», so die Mediensprecherin der Gewerkschaft. Lockerungen vermittelten «unter Umständen ein falsches Gefühl der Sicherheit, was dazu führt, dass Hygienemassnahmen nicht mehr eingehalten oder Schutzkonzepte nicht mehr berücksichtigt werden».
«Ich habe lieber Belohnung als Bestrafung»
Für Katharina Prelicz-Huber, Grünen-Nationalrätin und Präsidentin der Gewerkschaft VPOD, steht und fällt am Schluss alles mit der Frage, ob sich genügend Menschen impfen lassen, oder ob es zu einer hohen Ansteckung komme, sodass wieder Massnahmen ergriffen werden müssten.
Noch immer gebe es zu wenig Aufklärung, es brauche «proaktive Informationen», statt über Verschärfungen zu diskutieren, erklärt die Politikerin. Es seien «sehr viele Ängste gegenüber der Impfung vorhanden». Ihr Vorschlag: Ähnlich wie es bei mobilen Teststationen schon funktioniert, auch mobile Impfwägen einzuführen. «Ich habe lieber Belohnung als Bestrafung», so Prelicz-Huber. Man müsse mit der Impfung «zu den Leuten kommen».
Ausweitung des Covid-Zertifikats?
Derweil kursieren verschiedene Vorschläge, der drohenden vierten Welle zu begegnen. Einer davon betrifft die Ausweitung des Covid-Zertifikats, etwa auf Clubs, Restaurants, aber auch auf die Arbeitsstelle. Aktuell dürfen Arbeitgeber das Zertifikat von ihren Angestellten nicht verlangen.
Erlaubt ist es hingegen, «verhältnismässige Verhaltensregeln» aufzustellen, die «sinnvolle Erleichterungen» für Geimpfte, Genesene und Getestete beinhalten, wie der Schweizerische Arbeitgeberverband «blue News» mitteilte. Das betreffe etwa die Maskenpflicht.
«Sofern sich die epidemiologische Lage in den nächsten Wochen wieder drastisch verschlechtert», könne nach Ansicht des Arbeitgeberverbands «eine der Risikosituation am Arbeitsplatz angepasste Ausweitung des Einsatzes von Covid-Zertifikaten geprüft werden».
Verbandspräsident Valentin Vogt schlug in einem Interview mit «20 Minuten» für diesen Fall vor, dass Personen ohne Covid-Zertifikat etwa «in einem separaten Raum essen, wo ein separates Schutzkonzept gilt», und: «Wer ein Zertifikat hat, kann auf die Maske verzichten.»
Gewerkschaften skeptisch
Das Zertifikat sei für den privaten Rahmen konzipiert und sinnvoll, «aber am Arbeitsplatz hat es nichts zu suchen», kritisiert die Gewerkschaft Syna. Es dürfe «keinesfalls zu Diskriminierungen von Arbeitnehmenden kommen». Ob eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer geimpft ist, sei «privat und vertraulich» und dürfe vom Arbeitgeber nicht eingefordert werden.
Skeptisch ist auch die Unia: Das Covid-Zertifikat am Arbeitsplatz sei im Vergleich zu Restaurants oder Veranstaltungen «eine ganz andere Geschichte» und kritisch zu betrachten, sagt Sprecher Serge Gnos zu «blue News». Dort seien die Leute «grundsätzlich in einem Abhängigkeitsverhältnis». Dann sei man schnell an einem Punkt, an dem in die Grundrechte der Arbeitnehmenden eingegriffen werde.
Man würde so «durch die Hintertür die Impfpflicht einführen», so Gnos. Der Druck, sich impfen lassen zu müssen, steige exponentiell. Das sei «der falsche Weg». Man müsse schauen, wie sich mehr Leute impfen lassen, könne dies aber nicht an die Arbeitgeber delegieren. Ein grosses Problem ist es laut Gnos prinzipiell, wenn die Politik Dinge beschliesse, und diese dann an den Arbeitsplätzen nicht kontrolliert würden.
FDP-Mann Nantermod spricht sich generell dafür aus, den Einsatz von Covid-Zertifikaten «zu erweitern, wenn die Fälle zunehmen». Am Arbeitsplatz solle dies aber die Entscheidung des Arbeitgebers sein.
Christoph Berger, Chef der Eidgenössischen Impfkommission, hält eine Ausweitung des Zertifikats auch auf andere Bereiche für sinnvoll: «Man könnte das Covid-Zertifikat zum Beispiel auch bei kleineren Veranstaltungen zur Pflicht machen oder in Betrieben», sagte er im SRF-Interview. Einen breiteren Einsatz des Zertifikats sieht Berger «eher als Erleichterung für Geimpfte denn als Einschränkung für Ungeimpfte».
Im Gespräch ist auch eine Impfpflicht für Pflegepersonal. Erste Einrichtungen, wie eine Klinik in Neuenburg, haben dies bereits vor. FDP-Nationalrat Nantermod glaubt, «dass jede medizinische Einrichtung die Möglichkeit haben sollte, eine Impfpflicht für ihr Personal auszusprechen».
Die Syna spreche sich «klar gegen eine Impfpflicht des Gesundheitspersonals aus», teilte die Gewerkschaft mit. Anreize für die Impfung hingegen können einer Sprecherin zufolge ein Mittel sein, die Impfbereitschaft zu steigern.
«Leider ist es unvermeidlich»
«Mit Aufklärung und Information sollen sie möglichst dazu motiviert werden, sich impfen zu lassen – das ist der Weg», findet auch Christoph Berger. Druck auf Nichtgeimpfte sollte nicht ausgeübt werden. Vielmehr sollten «auch niederschwellige Impfangebote geschaffen werden oder Arbeitgeber dazu motiviert werden, ihre Angestellten fürs Impfen freizustellen», sagte er SRF.
Dass die Gesellschaft in Geimpfte und Nichtgeimpfte gespalten werden könne, sei laut Nantermod ein Risiko, «aber leider ist es unvermeidlich». Man könne Geimpften nicht unnötige Massnahmen auferlegen, um Menschen, die sich nicht impfen lassen, nicht zu kränken.
«Leider ist eine gespaltene Zweiklassengesellschaft in Geimpfte und Nichtgeimpfte» laut Grünen-Nationalrätin Prelicz-Huber bereits «in Ansätzen» zu spüren – vor allem «in der Haltung». Deshalb sei eine Sensibilisierungskampagne zentral.