AbpfiffJetzt heisst es abwarten, bis sich die Corona-Folgen der EM zeigen
Von Gil Bieler
12.7.2021
Fussballfans, die im Freudentaumel alle Hemmungen fallen lassen – und das Coronavirus völlig vergessen: Was die Szenen vom Sonntagabend für die Corona-Pandemie bedeuten, zeigt sich erst lange nach dem Abpfiff.
Von Gil Bieler
12.07.2021, 20:06
12.07.2021, 20:07
Gil Bieler
«Schon geimpft für ungezwungene Abende?» Das Versprechen auf mehr Lockerheit, mit dem der Kanton Zürich für die Coronavirus-Impfung wirbt, haben viele Fussballfans wörtlich genommen. Der Triumph der Italiener an der Euro 2020 hat die Langstrasse am Sonntagabend in eine Festhütte verwandelt. In Zürich, aber auch in anderen Städten, feierten die Tifosi in Massen, voller Adrenalin, dafür ohne Maske oder Abstand. Und viele der jüngeren Feierwütigen wohl sogar ganz ohne Impfschutz.
Was diese ausgelassene Fussball-Sause für die epidemiologische Entwicklung bedeutet, wird erst mit einiger Verzögerung feststehen. Es dürfte aber nichts Gutes sein, glaubt Urs Karrer: Die EM sei für das Coronavirus ein ideales Terrain, warnt der Vizepräsident der wissenschaftlichen Covid-Taskforce des Bundes. Der Grossanlass werde die Verbreitung des Virus in Europa vorantreiben und «einen coronabedingten Todeszoll fordern», sagte Karrer im «SonntagsBlick». Offen sei einzig, in welchem Umfang.
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12.07.2021
Beim Kanton Zürich heisst es ebenfalls, dass sich allfällige Folgen erst «in sieben bis zehn Tagen» zeigen dürften. Bisher habe man zumindest keine negativen EM-Folgen registriert, erklärt Beat Lauper, Leiter des kantonalen Contact-Tracings, auf Anfrage von «blue News». So seien bei spontanen Strassenfesten und beim Public Viewing noch keine Ansteckungen entdeckt worden, «obwohl positiv getestete Personen danach gefragt werden».
«Dagegen hatten wir vereinzelt private Veranstaltungen, die zu Ansteckungen geführt haben» – wenn sich Fans etwa gemeinsam einen Match angeschaut hätten.
Wer sich nach dem Finalspiel seinen Emotionen hingab und mit anderen Fans euphorisch durch die Nacht tanzte, der sollte nun am besten die bekannten Schutzmassnahmen einhalten, rät Lauper. Jene Fans, die weder geimpft noch genesen seien, sollten vielleicht besonders vulnerable Bekannte in den nächsten Tagen «nicht unbedingt treffen». Bei den geringsten Symptomen müsse man sich rasch testen lassen.
Reiserückkehrer als Hauptsorge
Viel grössere Sorgen bereiten den Verantwortlichen in Zürich derzeit Ferienrückkehrer. Diese machten mehr als die Hälfte der positiven Fälle aus. Lauper zufolge fiel die EM aber auch hierbei nicht als Infektionstreiber auf: Ansteckungen mit Bezug zu den EM-Austragungsorten, wo die Schweizer Nati gespielt hatte, gebe es aber nicht.
Die EU-Gesundheitsbehörde ECDC zählt derweil mindestens 2500 Infektionsfälle in Zusammenhang mit der EM. Dass sich auch mehrere Schweizer Fans so angesteckt haben, bestätigte die Vizepräsidentin der Vereinigung der Kantonsärztinnen und Kantonsärzte, Linda Nartey. Aus mehreren Kantonen seien Fälle positiv getesteter Rückkehrer*innen gemeldet worden. Nartey sprach letzte Woche in Bern von «einzelnen Meldungen», ohne konkret zu werden.
Fussball-EM, Reisesaison und Mutationen – die Pandemie befindet sich nach Ansicht von Expert*innen in einer fragilen Phase. Die Covid-Taskforce mahnt daher, vorsichtig zu bleiben. Dies gelte besonders wegen der ansteckenden Delta-Variante, die auch hierzulande auf dem Vormarsch ist und in mehreren europäischen Ländern zu einem deutlichen Anstieg der Fallzahlen geführt hat.
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Wie rasch es gehen kann, sieht man an den Niederlanden: Dort schnellten die Fallzahlen von 1200 auf über 10'000 Infektionen pro Tag hoch – in nur einer Woche. Das Land, das erst Ende Juni fast alle Restriktionen aufgehoben hatte, muss nun schon wieder Gegensteuer geben, das Nachtleben wurde wieder in die Zwangspause geschickt.
Auch in der Schweiz steigt die Zahl der Neuinfektionen wieder, wenn auch auf deutlich tieferem Niveau. Nach einem kontinuierlichen Sinkflug zeigt die Infektionskurve seit dem 26. Juni wieder nach oben. Am Montag meldete das Bundesamt für Gesundheit (BAG) 822 neue Ansteckungen innert 72 Stunden; am Montag vergangener Woche waren es noch 449 neue Fälle gewesen. Das ist ein Anstieg um 80 Prozent. Der R-Wert lag zuletzt bei 1,45 – das Virus breitet sich also weiter aus.
Diese Gemengelage bereitet dem Tessiner Kantonsarzt Giorgio Merlani Unbehagen. «Wir stehen am Anfang einer neuen Phase der Pandemie», meinte er am Montag in Bellinzona vor den Medien. «Wir alle merken, dass dies kein Sommer wie im letzten Jahr ist. Wir kamen damals aus einer dramatischen und traumatischen Situation heraus, es gab noch starke Einschränkungen, wir waren alle sehr vorsichtig.» Heute dagegen zirkulierten Mutationen und die Geduld der Bevölkerung sei am Ende.
Positiv sei, dass die eingesetzten Impfstoffe vor schweren Krankheitsverläufen schützten. Merlani appellierte daher an die Bevölkerung, sich rasch impfen zu lassen. «Warum warten?», fragte der Kantonsarzt rhetorisch, der warnte: «Es ist schade, ein wirksames Mittel gegen das Virus zu haben und es nicht einzusetzen.» Merlani erwartet, dass die Fallzahlen auch im Tessin bald wieder ansteigen dürften.
Auf die Hospitalisationen in der Schweiz haben sich die steigenden Fallzahlen noch nicht ausgewirkt. Nach wie vor ist laut BAG gut ein Drittel der Plätze der Intensivstationen frei, Covid-19-Patient*innen belegen aktuell 3 Prozent aller Intensivbetten.
Das Problem ist, dass sich eine Veränderung bei den Spitaleinlieferungen «ausgesprochen zeitversetzt» zeigt, wie es beim Kanton Zürich heisst. Vom Moment einer Infektion bis zu Erkrankung vergingen einige Tage, bis zum Spitaleintritt nochmals ein paar Tage und bis zu einer allfälligen Einlieferung auf die Intensivstation nochmals einige mehr, erklärt Contact-Tracing-Chef Beat Lauper.
Aktuell würden sich die «hochmobilen, jüngeren Generationen» anstecken. Manche davon arbeiteten aber unter Umständen in einem Heim, wo das Virus auch wieder auf ältere Personen übergreifen könne.
GDK: «Öffnungsschritt war vertretbar»
Dieses Szenario gilt zumindest dann, wenn man pessimistisch in die nähere Zukunft blickt. Bei der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) dagegen bewertet man die epidemiologische Lage als «nach wie vor gut», und: «Der fünfte Öffnungsschritt des Bundesrates war vertretbar», erklärt Mediensprecher Tobias Bär «blue News».
Aber: Die Schweiz befinde sich aber nach wie vor in der Stabilisierungsphase, nicht alle impfwilligen Personen seien auch schon geimpft worden. Um sich und andere vor einer Infektion zu schützen, seien die bekannten Hygiene- und Verhaltensregeln ein wirksames Mittel – und zwar im Inland wie im Ausland.
«Vor dem Hintergrund der guten epidemiologischen Situation und der Lockerungen der Massnahmen können wir uns wieder mehr erlauben, wir dürfen aber nicht leichtsinnig werden», fasst der GDK-Sprecher zusammen.