Langfristige soziale Folgen der Pandemie«Die Spaltungen werden uns noch ein paar Jahre begleiten»
Von Maximilian Haase
17.2.2022
Bundesrat hebt Corona-Massnahmen auf – Maskenpflicht im ÖV bleibt
Der Bundesrat hebt die Corona-Schutzmassnahmen weitgehend auf. Ab Donnerstag gibt es keine Zertifikats- und keine Maskenpflicht mehr in Läden, Restaurants und Kulturbetrieben. Die Maskenpflicht im ÖV und die fünftägige Isolation für Infizierte bleiben.
16.02.2022
Die meisten Massnahmen gegen das Coronavirus sind Geschichte. Aber wie wird die Erfahrung der Pandemie die Schweizer Gesellschaft mittel- und langfristig prägen?
Von Maximilian Haase
17.02.2022, 06:45
17.02.2022, 09:28
Von Maximilian Haase
Ziemlich genau zwei Jahre nach Erklärung der «ausserordentlichen Lage» durch den Bundesrat fallen die Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie fast vollständig. Für manche ist die Krise damit vorüber. Doch spurlos gehen Virus, Einschränkungen und die darum kreisenden Debatten und Proteste an einer Gesellschaft nicht vorbei. Auf welche mittel- und langfristigen Folgen muss sich die Schweizer Bevölkerung einstellen? Nachgefragt bei zwei Expert*innen.
«Die Krise wird von der Mehrheit gut bewältigt werden», sagt Katja Rost, Soziologin an der Universität Zürich, zu blue News. Der Mensch vergesse schnell, und so werde auch von der Pandemie langfristig nicht sehr viel bleiben. «Für unsere Generation war es unüblich, aber eben auch kein Krieg und auch keine Lepra oder Pest», so die Wissenschaftlerin.
Wir seien sehr resilient und würden deshalb in vielen Dingen schnell zum Alltag zurückkehren, vermutet auch der Sozialwissenschaftler Marko Kovic. Zugleich glaubt er, dass die Pandemie-Erfahrung nicht so schnell vergessen werde: «Die Spaltungen werden uns noch ein paar Jahre begleiten», sagt der Experte für Verschwörungstheorien zu blue News.
Spaltung der Gesellschaft
Mit Blick auf die Massnahmengegner vermutet Kovic: «Die Strukturen, die Mobilisierungskraft und die übergeordnete Verschwörungsideologie bilden ein Gerüst, mit dem man sich relativ flexibel anderen Themen widmen kann.» In der Schweiz könne man das schon jetzt beobachten: Massnahmenkritische Gruppierungen hätten sich stark gegen das Medienförderungsgesetz engagiert, das wenig bis nichts mit der Pandemie zu tun hatte.
Laut Kovic sei in der Pandemie eine Ideologie entstanden, die nicht so leicht wieder wegzubekommen sei: «Ein grosser, umfassender Vertrauensverlust gegenüber jeglichen Institutionen und vermeintlichen Autoritäten – sei es in der Politik oder Wissenschaft.» Die Spirale der letzten zwei Jahre habe eine gewisse Eigendynamik entwickelt: «Der Diskurs hat sich stark verroht. Das Niveau ist gesunken.»
Zur Person: Marko Kovic
zVg
Marko Kovic befasst sich mit gesellschaftlichem Wandel, mit Fokus auf Radikalisierung, Hass und Verschwörungsideologien.
Gewisse Dinge, die vor der Pandemie nicht akzeptabel waren, seien akzeptabel geworden, weil sie immer wieder wiederholt worden seien, so Kovac. Er verweist auf Holocaustvergleiche, Vergleiche mit der DDR, Diktaturvorwürfe und auf den «puren Hass, der aus allen Poren des Internets in die Debatte fliesst». Grundsätzlich sehe er die Pandemie aber «als Katalysator von Problemen, die es schon vorher gab». Nun würden wir uns «auf einem neuen Level» befinden.
Dass diese Skepsis gegenüber den Eliten nachwirken werde, glaubt auch Katja Rost. Auch für sie ist dies «keine unbedingte Folge der Pandemie, sondern wurde durch die Krise nur extrem begünstigt». Die Tendenz, dass sich Teile der Bevölkerung von der Politik, der Wissenschaft und auch von den Medien nicht abgeholt fühlen, beobachte man laut Rost schon seit Längerem.
Soziale Ungleichheit
Ursachen dafür seien auch struktureller Natur, so Soziologin Rost – etwa, dass es beim gesellschaftlichen Aufstieg keine Chancengleichheit gebe. Die Corona-Krise habe die Entwicklung zu einer Prekarisierung am Arbeitsmarkt beschleunigt. «Die Pandemie hat jene, die am wenigsten haben, am stärksten getroffen», bestätigt Kovic. Am Anfang habe man noch von «Essential Workers» gesprochen. Dies sei aber wieder aus dem Blickfeld geraten, was am medialen und politischen Diskurs liege.
Zur Person: Katja Rost
John Flury
Katja Rost ist Ordinaria für Soziologie und Privatdozentin für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Zürich. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Wirtschafts- und Organisationssoziologie, der digitalen Soziologie, sozialer Netzwerke und Diversität.
Andererseits, gibt Soziologin Rost zu bedenken, sei die Nachfrage nach Pfleger*innen, Lieferdiensten oder Kassierer*innen in der Pandemie stark gestiegen. Dadurch hätten diese besseres Verhandlungspotenzial, um auf ihre Arbeitsbedingungen hinzuweisen. «Wenn diese Berufe streikten, ging nichts mehr. Damit war die Pandemie durchaus auch eine Chance.»
Auf der anderen Seite habe es jene oft höherqualifizierten Berufe gegeben, die in der Pandemie einfacher ins Homeoffice wechseln konnten. Mit möglichen Folgen für den zukünftigen Arbeitsmarkt: «Wenn ich nicht im Büro sein muss, kann man auch jemanden aus Indien anstellen. Es könnte sein, dass diese Jobbereiche auch in Zukunft mehr unter Druck geraten», so Katja Rost.
Digitalisierung und Social Media
Eine Chance sieht die Soziologin für die kommenden Jahre in der Digitalisierung, die während der Pandemie einen Schub erhalten hätte. Viele Unternehmen hätten zuvor im vorigen Jahrhundert festgehangen. «Es gab grossen Widerstand gegen die Digitalisierung – nun ist der technologische Wandel vielerorts vollzogen. Das hat Türen geöffnet, auch was Nachhaltigkeit angeht.» Die Digitalisierung habe aber auch Grenzen: «Gewisse Kontakte müssen persönlich stattfinden.»
Marko Kovic sieht derweil einen positiven Effekt der Pandemie darin, dass nun eine «ernsthafte Debatte» über die Regulierung der Social-Media-Plattformen entstehe: «Wir sehen, dass wir online nicht mehr Wilden Westen haben können», so der Sozialwissenschaftler zu blue News.
Masken, Begrüssung und der Alltag
Doch was ist mit unserem ganz normalen Alltagsleben? Auch hier könnte die Pandemie laut Kovic längerfristig Spuren hinterlassen. Er sei gespannt, ob wir bei der alltäglichen Begrüssung wieder zum Küsschen zurückgehen oder beim Fistbump bleiben. Dass man sich die Hand schüttelt, werde sich dem Experten zufolge aber wohl wieder etablieren: «Das Händeschütteln ist ein Symbol, dass wir alle ein bisschen vermissen, weil es eine gewisse Nähe und Friedfertigkeit signalisiert.»
Ob sich dies ausdifferenziere, könne auch eine Generationenfrage sein. Die Vertreter der Generation Z könnten weniger Berührungsängste haben, die Älteren vorsichtiger bleiben. Auch Katja Rost differenziert in Sachen Begrüssung: «In vielen Kreisen umarmt man sich schon wieder, schüttelt sich die Hände. Auch wenn es da natürlich Unterschiede gibt: Manche sind auch im Freundeskreis weiterhin vorsichtig.»
Bleibt die grosse Frage nach der Zukunft des Maskentragens. «Das Maskentragen wird noch eine Weile bleiben», glaubt die Soziologin, insbesondere in der Öffentlichkeit, im Verkehr und in Läden. Daran habe man sich gewöhnt. Aber auch das werde sich ändern: Würden etwa in der Tram anfangs noch Personen ohne Maske schräg angeschaut, drehe sich dieser Effekt irgendwann um: «Dann haben diejenigen höhere Kosten, die Maske tragen.»
Ihr Kollege Marko Kovic vermutet hingegen, dass sich das Maskentragen auch im Westen «als kulturelle Norm etablieren» werde, ähnlich wie in den ostasiatischen Ländern. In Japan werde man im Winter mit Maske nicht schief angeschaut. Er vermutet, dass dies auch in unseren Breitengraden so kommen werde: «Ich glaube nicht, dass das böse Blicke verursacht.»
Veränderung der Sprache
Zu guter Letzt ein Blick auf die Auswirkungen der Pandemie auf unsere Sprache: Gewisse Ausdrücke hätten sich in der Alltagssprache etabliert und würden aus dieser auch nicht so schnell verschwinden, sagt Marko Kovic. So sei etwa «Lockdown» ein «schöner Begriff, den alle intus haben» und den man auch metaphorisch für andere Dinge verwenden könne. «Unser Vokabular wird erweitert und durchaus von dieser Krisenerfahrung geprägt.»
Die Sprache hänge immer mit den Erfahrungen der Menschen zusammen, weiss auch Soziologin Katja Rost. Viele würden auch in zehn Jahren noch wissen, was mit «Lockdown» gemeint sei. Es gebe gewisse Begriffe, die neu entstanden oder in Mode gekommen sind: «Zudem, wir sind ja alle ein wenig Virologen geworden.» Einiges davon werde bleiben, anderes aber verblassen.