Armutsrisiko Krankenkassenprämien «Es werden sich immer mehr Menschen verschulden»

Von Dominik Müller

3.6.2024

Um keine Rechnung zu erhalten, meiden vermehrt Menschen trotz Beschwerden den Besuch beim Arzt.
Um keine Rechnung zu erhalten, meiden vermehrt Menschen trotz Beschwerden den Besuch beim Arzt.
Bild: Keystone

Die Krankenkassenprämien sind ein Grund, warum sich immer mehr Leute verschulden. Schuldenberater Lorenz Bertsch erklärt im Interview, wieso das System in seiner heutigen Form nicht mehr funktioniert.

Von Dominik Müller

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  • Jahr für Jahr sorgen die hohen Gesundheitskosten dafür, dass die Prämien in der Grundversicherung erhöht werden.
  • Das bringt insbesondere Personen in prekären finanziellen Verhältnissen in Bedrängnis.
  • Lorenz Bertsch, Bereichsleiter der Sozial- und Schuldenberatung der Caritas St. Gallen-Appenzell, erläutert im Interview die Situation der sogenannten Working Poor.

Die Gesundheitskosten in der Schweiz steigen seit geraumer Zeit immer weiter. Während die Krankenkassenprämien für einen grossen Teil der Bevölkerung zwar mühsam, aber bewältigbar sind, bedrohen sie andere in ihrer Existenz: jene, die ohnehin kaum Geld oder bereits Schulden angehäuft haben.

Bei hoch verschuldeten Personen beträgt der Anteil der Krankenkassenprämien an der Schuldensumme bereits 15 Prozent – 2015 waren es noch 8 Prozent. Das zeigt eine neue Statistik des Dachverbands Schuldenberatung Schweiz.

Herr Bertsch, Sie beraten Personen mit Schulden. Was für eine Rolle spielen die Krankenkassenprämien bei Leuten, die zu Ihnen kommen?

Rund 80 bis 90 Prozent der Leute, die zu uns in die Schuldenberatung kommen, haben Schulden bei der Krankenkasse. Nach der Steuerschuld sind Schulden bei der Krankenkasse die grösste Schuldenart in der Schweiz.

Greifen immer mehr Menschen auf Ihr Angebot zurück?

Absolut, im Moment werden wir überrennt mit Anfragen. Wir gehen etwa von 20 bis 30 Prozent mehr Fällen aus, im Vergleich zu den Vorjahren. Das Telefon klingelt ununterbrochen.

Zur Person
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Caritas

Lorenz Bertsch ist Bereichsleiter der Sozial- und Schuldenberatung der Caritas St. Gallen-Appenzell. Er hat zudem die Leitung des Fachbereichs Sozialpolitik inne.

Ist das eine kurzfristige Entwicklung?

Eine Verschuldung passiert nicht von heute auf morgen. Also wenn ich jetzt höhere Prämien zahlen muss, heisst das nicht, dass ich mich jetzt verschulde. Die Prämien sind aber auch schon in den letzten Jahren gestiegen. Das Problem ist, wer einmal in diesem Schuldenkreis drin ist, kommt fast nicht mehr raus. Mit Glück kann die Krankenkasse mit einer Lohnpfändung noch bezahlt werden. Oder aber eine Lohnpfändung ist nicht möglich und dann sieht man: Das ist jemand, der wirklich am Existenzminimum lebt und entsprechend keine Möglichkeit hat, zu bezahlen. Und hier kommt ein gängiges Klischee ins Spiel.

Welches Klischee?

Dass viele Leute selbst an ihrer Situation schuld seien, wenn sie die Prämien bewusst nicht bezahlen. Das sind aber zu einem grossen Teil Menschen, die nicht eben keine Lust haben, zu zahlen, sondern dies schlichtweg nicht können, weil sie ein zu tiefes Einkommen haben.

Gerade für solche Menschen gibt es das Instrument der Prämienverbilligung. Reicht das nicht aus?

Nein, im Moment nicht, weil die Prämienverbilligung nicht an die gestiegenen Lebenshaltungskosten angeglichen wird. Im Kanton St. Gallen wurde die ordentliche Prämienverbilligung in den letzten drei Jahren von 80 auf 160 Millionen pro Jahr verdoppelt, was sensationell ist. Die deutliche Erhöhung zeigt aber, dass wir vor drei Jahren noch weit von einer wirkungsvollen Prämienverbilligung entfernt waren. Und einige Kantone haben nicht nachgezogen.

Grundsätzlich ist die Prämienverbilligung zu tief, um die steigenden Prämien abzudecken. Und erschwerend kommt hinzu, dass auch die Kosten in anderen Bereichen wie Benzin, Miete oder Strom gestiegen sind. Es ist eine Kumulation von Kosten, die immer mehr Menschen in die Schulden treiben.

Wer die Stromrechnung nicht bezahlt, dem wird der Strom abgestellt. Wer keine Miete zahlt, verliert seine Wohnung. Werden die Prämien nicht bezahlt, sind die Auswirkungen nicht unmittelbar spürbar. Bleiben diese Rechnungen deshalb länger offen?

Ich würde das nicht so plakativ formulieren. Ich zahle sicher zuerst die Miete, weil ich ein Dach über dem Kopf brauche. Ich muss Lebensmittel kaufen, weil ich essen muss. Ich muss mit dem Auto morgens um 3 Uhr in die 60 Kilometer entfernte Firma fahren. Es gibt also viele «Muss-Kosten», die ich nicht verhindern kann. Wenn ich alles andere zahle, fehlt es mir dann unter Umständen an Geld für die Krankenkasse – Gleiches gilt für die Steuerrechnung. In vielen Fällen ist es also keine vorsätzliche Geschichte, wenn jemand nicht bezahlt.

Ein weiteres Problem ist, dass die Prämienverbilligung nicht im Januar, sondern manchmal erst im Mai oder Juni ausbezahlt wird. Wenn beispielsweise eine vierköpfige Working-Poor-Familie mit einem monatlichen Einkommen von 3800 Franken bis Mitte Jahr jeden Monat 1000 Franken Prämien bezahlen muss, kann es im Juni schon zu spät sein.

Sie plädieren für eine frühere Auszahlung der Prämienverbilligung?

Unbedingt. Die Prämienverbilligung müsste ab Januar fliessen. Im Beispiel von vorhin würde dann die Rechnung statt 1000 vielleicht nur noch 200 Franken betragen. Wir sprechen von den sogenannten Working Poor, also von erwerbstätigen Personen, die am Existenzminimum leben, aber keinen Anspruch auf staatliche Unterstützung in Form von Sozialhilfe haben. Das sind in der Schweiz die Ärmsten der Armen. Die Prämienverbilligung ist für diese Menschen die einzige Budgetentlastung.

Beraten Sie ausschliesslich Working Poor?

Nein, die Schuldenfalle betrifft grundsätzlich alle. Wir beraten auch Leute mit höheren Einkommen. Aber es sind schon hauptsächlich Menschen aus dem Tieflohnsegment. Oft steht ein Schicksalsschlag am Ursprung, etwa ein Unfall oder eine Krankheit. Es kann wirklich jedem passieren, dass er oder sie sich verschuldet. Das eigentliche Grundübel ist, dass die Löhne im Tieflohnsegment in den letzten 20 Jahren nicht gestiegen sind, sprich: die Löhne nicht den steigenden Kosten angepasst wurden. So bleibt den Menschen infolge höherer Kosten immer weniger zum Leben. Und dies wiederum führt dazu, dass eine grosse Gefahr der Verschuldung besteht.

Immer mehr Menschen wählen die Maximalfranchise von 2500 Franken, um weniger Prämien zu zahlen. Ist das aus Ihrer Sicht eine Lösung, um weniger schnell in die Schuldenfalle zu tappen?

Eine Lösung ist es absolut nicht. Eine Krankheit oder ein Unfall kann jeden treffen – und schon muss man die ersten 2500 Franken selbst bezahlen. Wie soll das jemand stemmen, der kein Geld hat? Dann geschieht die Verschuldung eben nicht bei den Prämien, sondern bei der Kostenbeteiligung. Bei Personen, die die Franchise erhöhen, stellen wir eine zunehmende Zurückhaltung mit Arztbesuchen fest. Bei Schmerzen wird eher auf die Zähne gebissen, als die Notfallstation aufzusuchen und dafür eine Rechnung zu erhalten.

Wenn Menschen aus Kostendruck auf eine Behandlung verzichten, muss das doch ein alarmierendes Zeichen sein für einen Staat, der über eine so gute Gesundheitsversorgung verfügt wie die Schweiz.

Das ist so. Hinzu kommt, dass es letztlich noch teurer werden kann, wenn man zu spät zum Arzt geht. Die Folgekosten einer zu späten Behandlung sind dann noch höher.

Das Problem dürfte sich weiter verschärfen: Auf das laufende Jahr hin sind die Prämien im Schnitt um 8,7 Prozent gewachsen. Und erste Prognosen für das Jahr 2025 gehen von einem weiteren Anstieg von 5 Prozent oder mehr aus. Wird entsprechend auch die Zahl der Verschuldeten steigen?

Ja, das ist ein Fakt. Da wird eine massive Zunahme der Anzahl Verschuldungen auf uns zukommen. Gerade in Kombination mit den bereits erwähnten weiteren Kosten, die ebenfalls steigen, werden sich immer mehr Menschen verschulden. Aus unserer Sicht ist das eine sozialpolitische Zeitbombe.

Wie kann man sich vor dieser Schuldenfalle schützen?

Wir empfehlen den Leuten, einen Automatismus einzurichten. Sprich: die Krankenkassenprämien mittels Lastschriftverfahren und die Steuern mit einem monatlichen Dauerauftrag zu bezahlen. Das wird natürlich problematisch, wenn dann im Gegenzug das Geld für Lebensmittel fehlt. Ansonsten ist es aber sehr schwierig, budgettechnisch noch etwas zu machen, zumal die Leute meistens schon sehr sparsam unterwegs sind.


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