1 Jahr Corona-Impfung «Die Welt bräuchte jetzt noch bessere Impfstoffe»

Von Gil Bieler

23.12.2021

Seit einem Jahr impft die Schweiz gegen das Coronavirus an. Warum sind die Spitäler dennoch voll? Und durchbricht Omikron den Impfschutz? Der Immunologe Daniel Speiser zieht Bilanz und erklärt die Tücken der Pharmabranche.

Von Gil Bieler

23.12.2021

Die grösste Impfaktion in der Geschichte der Schweiz begann vor genau einem Jahr in einem Luzerner Pflegeheim. Am 23. Dezember 2020 erhielt dort eine 90-jährige Seniorin als erste Schweizerin die Corona-Impfung. 

Die Entwicklung seither war rasant: Die Impffrage hat Gräben in Familien, Freundeskreisen und Politik aufgerissen. Ein Teil der Bevölkerung sperrt sich bis heute gegen den Piks, der Grossteil dagegen ist mittlerweile geimpft. Viele holen sich im zweiten Corona-Winter auch schon den Booster. Ab Januar werden erstmals auch Kinder zwischen fünf und elf Jahren geimpft.

Das zeigt: Die Impfkampagne ist noch lange nicht abgewickelt. Der geplante Rückblick mit dem Immunologen Daniel Speiser wird daher rasch zur Bestandesaufnahme der Herausforderungen der aktuellen fünften Infektionswelle – und der aufkommenden Omikron-Mutation.

Herr Speiser, vor einem Jahr erhielt die erste Person in der Schweiz eine Corona-Impfung, heute sind wir schon beim Boostern. Haben Sie solch eine rasante Impfstoffentwicklung und -bereitstellung schon einmal erlebt?

Das ist in der Tat einmalig. Normalerweise dauert eine Impfstoffentwicklung lange, aus verschiedenen Gründen. Zum einen ist die Dringlichkeit meist nicht besonders gross, zum anderen gibt es im Normalfall viel weniger Unterstützung für die Entwicklung. Das ist dieses Mal völlig anders.

Speziell ist ja auch, dass weltweit und quasi in Echtzeit entwickelt wird.

Das stimmt nur bedingt. Zu Beginn der Pandemie vor zwei Jahren kamen die ersten Impfstoffe rasch auf den Markt. Doch seither werden diese Vakzinen benutzt, und nur wenig Neues kam auf. Mit Novavax kam jetzt zum Glück noch ein Protein-Impfstoff hinzu, von dem auch die Schweiz sechs Millionen Dosen bestellt hat. Aber eigentlich bräuchte die Welt jetzt noch bessere Impfstoffe, doch da geschieht leider nicht viel. Insbesondere in unserem Land, wo die Unterstützung von Anfang an schlecht lief.

Was hat die Schweiz denn falsch gemacht?

Zur Person
zVg

Daniel Speiser ist Immunologe an der Universität Lausanne und Impfstoffexperte.

Die Schweiz hätte das Potenzial, sehr gute Impfstoffe zu entwickeln und bereitzustellen. Doch in dieser Frage hat sich nur wenig getan. Der Bundesrat hat von Anfang an auf die internationalen Frontrunners gesetzt, vor allem den USA folgend, welche die Impfhersteller im eigenen Land massiv gepusht haben. Der Bund setzt auf die gleichen Lieferanten wie die meisten westlichen Länder. Die Folge dieser Entwicklung ist, dass die Amerikaner den Markt beherrschen, was auch zu weniger Innovation führt. Dabei könnte man noch bessere Impfstoffe herstellen.

Sie sagen also, der Bund habe seine Karten aus der Hand gegeben?

So ist es. Obwohl wir ein Pharmaland sind, hat die Regierung zu wenig Führungsqualitäten gezeigt.

Vielen Menschen geht die Entwicklung der Corona-Impfstoffe zu schnell. Können Sie diese Bedenken nachvollziehen?

Zu Beginn konnte ich das besser verstehen, mittlerweile wurden aber bereits so viele Menschen geimpft, dass mir diese Kritik schwerfällt. Man hat ja gesehen, dass die Impfstoffe sicher sind. Natürlich ist es richtig, dass man auch weiterhin penibel auf die Sicherheit achtet. Das geht übrigens auch mit meiner Forderung nach besseren Impfstoffen einher: Vielleicht kann man die Sicherheit sogar noch steigern. Und vielleicht bekommt man auch eine bessere und länger anhaltende Schutzwirkung hin. Wobei ich doch klarstellen muss: Die mRNA-Impfungen sind wirksam und sehr sicher. Aber es ginge wahrscheinlich noch besser.

Bessere Impfstoffe – ist das so einfach möglich, wenn dauernd neue Mutationen mit anderen Eigenschaften auftreten?

Das ist machbar, wie diverse Studien zeigen. Viele Forschungsresultate kommen aber nicht von den grossen Playern, sondern meist von kleinen Teams aus dem akademischen Bereich. Die werden aber leider nicht unterstützt, weil sie unter «Ferner liefen» laufen. Es fehlt ihnen an den nötigen öffentlichen und privaten Investitionen.

«Den kleinen Forschungsteams fehlt es an den nötigen Investitionen.»

Das fällt schwer zu glauben: Sogar wer ein erfolgversprechendes Produkt hat, bekommt nicht die nötigen Mittel, um das auf den Markt zu bringen?

So ist es. Das Gute ist der Feind des Besseren. Investoren schauen in erster Linie, wo sie Rendite erzielen können. Und wenn sie sehen, dass man bei Pfizer/Biontech oder Moderna gut verdienen kann, investieren sie lieber dort weitere Millionen anstatt bei einem weniger bekannten Forschungsteam.

Aber mit Impfstoffen lässt sich doch viel Geld verdienen?

Betrachten wir einmal den Normalfall, wenn keine Pandemie herrscht. Dann ist die Entwicklung von Impfstoffen kein lukratives Geschäftsfeld. Denn anders als etwa bei einer Kopfwehtablette, die täglich milliardenfach verkauft wird, braucht es bei Impfungen nur zwei, drei Dosen pro Person. Damit verdient man kaum Geld, weshalb in den letzten Jahrzehnten nur noch ganz wenige Pharmafirmen neue Impfstoffe entwickeln. Das hat sich zu Beginn der Pandemie mit einem Schlag verändert – weil die Staaten Milliarden eingeschossen haben und die privaten Investoren nachgezogen sind. Das war aber zu Beginn so, mittlerweile sind wir wieder am Ausgangspunkt angelangt.

Und von Moderna und Pfizer/Biontech erwarten Sie keine grossen Innovationen mehr?

Die grossen Player entwickeln ihre Produkte natürlich weiter und verbessern sie auch, aber für komplett neue und verbesserte Impfungen bräuchte es auch andere Ansätze. Dazu kommt die alte Weisheit der Pharmabranche: Wieso sollte man ein besseres Medikament entwickeln, wenn das alte so gut läuft? Das tönt brutal, aber es ist so.

«Das Problem mit den meisten Corona-Infektionen ist, dass sie nur eine schwache Immunantwort hinterlassen.»

Wie könnte man daran denn etwas ändern?

Die öffentliche Hand müsste nochmals im grossen Stil unterstützen und dabei auf noch bessere Impfungen setzen. Das würde sich allein schon dadurch rechnen, als die wirtschaftlichen Schäden durch die Pandemie viel grösser sind als die dafür investierten Mittel.

Die Spitäler sind voll, das öffentliche Leben wurde wieder eingeschränkt. Wieso stehen wir an einem ähnlichen Punkt wie schon im letzten Winter?

Wegen der aggressiven Varianten. Schon Delta konnte sich weltweit in nur wenigen Wochen durchsetzen, und nun sehen wir dasselbe bei Omikron. Das Problem bei den meisten Corona-Infektionen ist, dass sie eine nur schwache Immunantwort hinterlassen. Darum kann man sich leicht wieder mit dem gleichen Virus anstecken, obwohl man es zum Beispiel schon im letzten Winter hatte. Es gibt zwar einen Immunschutz, der auch vor einer schweren Erkrankung schützt, aber man erwischt das Virus doch wieder.

Das ist beim jetzt kursierenden Coronavirus auch so. Darum braucht es auch bessere und länger schützende Impfstoffe. Die haben wir eigentlich, aber das Virus hat sich leider sehr perfide spezialisiert. Ohne Delta oder Omikron hätten wir heute eine viel bessere Situation.

WHO: Omikron infiziert auch die Geimpften

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Gibt es auch etwas, das Sie positiv stimmt?

Die Mortalität ist wahrscheinlich kaum mehr gestiegen. Omikron ist zwar viel ansteckender geworden, aber, wie es scheint, nicht tödlicher. Wir können froh sein, dass das nicht passiert ist. Denn möglich wäre es.

Hält der Impfschutz auch gegen Omikron?

Ja, die Impfungen wirken. Man kann sich zwar erneut infizieren, aber ist vor einem schweren Krankheitsverlauf geschützt. Das ist das oberste Ziel. Ohne Impfungen hätten wir enorm viel mehr Todesfälle – vielleicht Hunderttausende – und wären schon seit Wochen im kompletten Lockdown. Man würde sich nicht mehr getrauen, das Haus zu verlassen.

Überrascht es Sie, wie viele Menschen sich dennoch gegen die Impfung entscheiden?

Schon, ja. In der Pandemie hat sich gezeigt, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung für rationale, faktenbasierte Informationen nicht empfänglich ist. Rund ein Drittel nutzt keine klassischen Medien wie Zeitungen, Radio oder Fernsehen, sondern hat eigene Informationskanäle. Diese Leute zimmern sich eine eigene Realität. Das finde ich betrüblich. Schliesslich geht es hier um eine lebensbedrohende Krankheit, und mit der Impfung würden sie ihren Beitrag leisten, um grosses Leid zu verhindern.

Wegen der hohen Ansteckbarkeit von Omikron glauben einige Fachleute, diese Variante könnte zu einer Herdenimmunität führen. Wie sehen Sie das?

Es gibt immer noch viele Menschen, die ungeimpft sind und noch nicht infiziert wurden. All die haben beim Kontakt mit Omikron ein nicht zu unterschätzendes Sterberisiko. Würden sich all diese Menschen in diesem Winter mit Omikron infizieren, hätten wir enorm viele Todesfälle und Long-Covid-Betroffene. Das kann nicht der Weg zur Herdenimmunität sein, sondern die Impfung. Die Impfung führt auch zu einer stärkeren und länger andauernden Immunität, ganz ohne Leid. Es geht hier um den Schutz der Gesundheit, aber auch um die Wirtschaft und das öffentliche Leben: Wenn viele Menschen schwerkrank werden, dann müssen wir wieder alles schliessen – das kann doch niemand wollen.



Braucht es gegen Omikron einen komplett neuen Impfstoff?

Nein. Die Wissenschaft ist sich zwar nicht ganz sicher, ob ein veränderter Impfstoff besser wäre, aber auch die bestehenden Vakzinen schützen sehr gut gegen Omikron und man kann diese wohl in kleinen Schritten verbessern. Hier sprechen wir vor allem von den mRNA-Impfstoffen. Doch es gibt auch die sogenannten Protein-Impfstoffe wie Novavax. Diese könnten unter Umständen eine noch stärkere Immunität herbeiführen, deshalb brauchen wir auch mehr davon.

Coronaviren verschwinden nicht einfach. Müssen wir uns jetzt an regelmässige Impfungen gewöhnen?

Das ist wahrscheinlich so. Wobei man sehen muss: Der Impfschutz fällt ja nicht mehr zurück auf null, im Gegenteil, mit jedem Booster ist man noch mehr und noch länger geschützt. Momentan ist das Zeitintervall mit vier Monaten sehr kurz. Da hoffe ich, dass wir bald bei Impfintervallen von einem Jahr, vielleicht sogar nur drei Jahren sind.

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