Italien macht dicht «Wir bieten ihnen ja auch nichts»

Von Monique Misteli

15.4.2023

Italien hat im Dezember das Dublin-Abkommen und seit dieser Woche den Notstand verhängt. Im Bild: Menschen wagen in einem kleinen Boot die Überfahrt über das Mittelmeer nach Italien.
Italien hat im Dezember das Dublin-Abkommen und seit dieser Woche den Notstand verhängt. Im Bild: Menschen wagen in einem kleinen Boot die Überfahrt über das Mittelmeer nach Italien.
Keystone

Anfang der Woche hat Italien den Notstand ausgerufen – eine Reaktion auf die steigenden Migrationszahlen. Das hat auch Folgen für die Schweiz, wie die EU- und Migrationsexpertin Sarah Progin-Theuerkauf erklärt.

Von Monique Misteli

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Die italienische Regierung hat den Notstand ausgerufen, um damit den langwierigen parlamentarischen EU-Prozessen zur Aufnahme von Asylsuchenden zu umgehen. 
  • Italien hat bereits davor das Dublin-Abkommen aufgekündigt und lässt Asylsuchende nicht mehr ins Land rücküberführen – obwohl dies im im Dublin-Vertrag so vorgesehen ist. 
  • Laut der Europa- und Migrationsexpertin dürfte sich daran in absehbarer Zukunft wenig ändern. 

«Auf dem Weg zur Unmenschlichkeit», «Das wahre Gesicht Giorgia Melonis», «Alles nur Show», aber auch «Italien braucht die Hilfe der EU» – so diskutieren die europäischen Medien den Notstand, den die italienische Regierung zu Beginn der Woche ausgerufen hat.

Mit diesem Schritt reagiert die Regierung der rechtspopulistischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni auf die zuletzt hohen Migrationbewegungen über die Mittelmeerroute.

Doch was bedeutet der gut sechs Monate andauernde Notstand für die Schweiz? blue News hat bei Sarah Progin-Theuerkauf, Professorin für Europarecht und Migrationsrecht an der Universität Freiburg, nachgefragt. Hier die Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Warum ruft Italien gerade jetzt den landesweiten Notstand aus?

«Faktisch hätte Giorgia Meloni bereits vor Monaten den Notstand ausrufen können», sagt Professorin Sarah Progin-Theuerkauf. Dass sie dies jetzt tue, sei wohl mit innenpolitischen Argumenten zu begründen, so die Migrations-Expertin. 

Die Zahlen des italienischen Innenministeriums lassen in der Tat aufhorchen: Während der ersten drei Monate des Jahres 2023 haben rund 28'000 Menschen die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer gewagt. Das sind mindestens viermal so viele wie im selben Zeitraum des Vorjahres. Allein am Osterwochenende sind demnach 2000 Migrant*innen auf der süditalienischen Insel Lampedusa angekommen. 

Die steigenden Zahlen dürften laut Menschenrechtsorganisationen durch das milde Winterklima und das verhältnismässig ruhige Meer verstärkt worden sein. Auch der sogenannte Nach-Corona-Effekt – also all jene Menschen, die wegen der Covid-Pandemie nicht reisen oder in einem Transitland wie Libyen oder Tunesien ausharren mussten und erst jetzt weiterreisen können – dürfte die Zahlen mit in die Höhe treiben.

Etliche Menschen versuchen immer wieder mit oft seeuntauglichen Booten aus Tunesien und Libyen über das Mittelmeer, die italienischen Inseln Lampedusa und Sizilien sowie das italienische Festland oder Malta zu erreichen. Bei den hochgefährlichen Überfahrten kommt es mitunter zu verheerenden Bootsunglücken, wie etwa Ende Februar vor der Küste Kalabriens mit mindestens 90 Toten.

Was bedeutet der Notstand genau, auch für die Schweiz?

Der nun ausgerufene Notstand befähigt die Regierung Melonis, Massnahmen per Verordnung zu beschliessen und dabei den langwierigen parlamentarischen Prozess für Finanzierungen und Regulierungen für die Aufnahme von Flüchtlingen zu umgehen.

Und das, nachdem Italien bereits im Dezember das Dublin-Abkommen ausgesetzt hat. Das heisst, seither nimmt Rom keine Flüchltinge mehr zurück, die Italien als Erstland erfasst hat.

Laut dem Staatssekretariat für Migration (SEM) ist auch nicht absehbar, ob und wann der Aufnahmestopp aufgehoben wird. Wie ein Mediensprecher des Amtes zu SRF sagte, könnten durch das gestoppte Abkommen derzeit etwa 300 Personen nicht nach Italien überstellt werden.

Gemäss dem Dublin-Abkommen hat die Schweiz sechs Monate Zeit, um Asylsuchende in ein Erstaufnahmeland wie Italien zurückzuführen. Könne eine Person nach Ablauf der Frist nicht zurückgeschickt werden, würde in der Schweiz das nationale Asylverfahren gestartet werden. 

Was können die Schweiz und die EU gegen den Vertragsbruch machen?

Laut EU-Rechtsexpertin Progin-Theuerkauf kann die EU-Kommission oder ein Mitgliedstaat ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) einleiten. Dass dies tatsächlich geschehe, damit rechnet sie aber nicht – denn bis ein Urteil gefällt wird, vergehen oft Jahre.

Da die Schweiz selbst nicht Mitglied der EU ist und «nur» ein Assoziierungsabkommen unterzeichnet hat, bleiben dem Bundesrat sogar noch weniger Mittel, um gegen Italien vorzugehen, wie Progin-Theuerkauf erklärt.

Dass kommende Woche Aussenminister Ignazio Cassis nach Rom reist und sich Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider noch vor dem Sommer mit italienischen Regierungsvertretern treffen will, stimmt die Expertin vorsichtig optimistisch. Man könne schon versuchen, zu verhandeln, etwa finanziell Druck ausüben oder mit anderen Sanktionen drohen, aber solche Massnahmen seien meist wenig wirksam, so Progin-Theuerkauf. Sie meint: «Man kann Italien nicht zwingen, das Abkommen wieder aufzunehmen, wir bieten ihnen ja auch nichts.»

Bundesrat Ignazio Cassis reist nächste Woche nach Rom, wo er sich unter anderem mit dem italienischen Aussenminister unterhalten will.
Bundesrat Ignazio Cassis reist nächste Woche nach Rom, wo er sich unter anderem mit dem italienischen Aussenminister unterhalten will.
Bild: Keystone/Anthony Anex

Ist das Dublin-Abkommen gescheitert?

«Nein», sagt die Professorin. Denn es funktioniere ja noch mit anderen Staaten. Ausserdem hätten in der Vergangenheit auch andere EU-Staaten Probleme mit der Einhaltung der Dublin-Verordnung gehabt, führt sie aus. Etwa Griechenland, Kroatien oder Ungarn. Nur sei im Falle Italiens die Schweiz unmittelbar betroffen, so Progin-Theuerkauf.

Mit Material der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.

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