Wie konnte es dazu kommen, dass der einstige «Lehrer der Nation» Jürg Jegge während Jahren unbemerkt Schüler missbrauchte? Der Untersuchungsbericht der Zürcher Bildungsdirektion stellt den damaligen Behörden ein durchzogenes Zeugnis aus.
Neunzig Seiten dick ist der Bericht, den der Rechtsanwalt Michael Budliger im Auftrag des Kantons erstellte. Budliger befragte dafür ehemalige Mitarbeiter der Erziehungsdirektion, Zeitzeugen und Schüler. Stapelweise Akten wurden ausgewertet.
Das Resultat ist für die damaligen Verantwortlichen beim Kanton und in den Gemeinden wenig schmeichelhaft: Sie hatten es schlicht verpasst, den "Lehrer der Nation" richtig zu führen. So konnte sich Jegge ein eigenes Reich schaffen, in dem die Missbräuche überhaupt möglich wurden und erst Jahrzehnte später ans Licht kamen.
Aus heutiger Sicht sei die zuständige Schulpflege führungsschwach und nachgiebig gewesen, schreibt Budliger in der Untersuchung, die am Donnerstag veröffentlicht wurde. Im damaligen Kontext sei das aber nachvollziehbar. Jegges Kultstatus, vor allem wegen seines Buches "Dummheit ist lernbar", habe zu einer gewissen Unberührbarkeit geführt.
17 Schulbesuche in zwei Jahren
Diese Unberührbarkeit führte dazu, dass Jegge die Anweisungen der Schulpflege schlicht ignorierte - und damit durchkam. Im Untersuchungsbericht sind seitenweise Sitzungen aufgeführt, in denen die überforderte Laienbehörde über den charismatischen "Lehrer der Nation" diskutierte.
Dabei ging es etwa darum, dass er seine Pflichten als Lehrer nicht erfüllte, seine "Methoden" als seltsam empfunden wurden oder weil er Forderungen stellte wie den Aufklärungsunterricht einführen zu dürfen. Ein Verdacht, dass die pädagogische Lichtgestalt Knaben missbrauchen könnte, ist allerdings nirgends vermerkt.
Zwar wurde Jegge innerhalb von zwei Jahren stolze 17 Mal von einem Visitator beim Unterricht beobachtet. Ob dieser Visitator etwas von den Übergriffen ahnte oder vielmehr Anhänger von Jegges Methoden war, kann heute aber nicht mehr geklärt werden. Die Berichte sind nicht auffindbar, der Visitator ist gestorben.
Fehlende Ausbildung
Beim Kanton hatten Jegges Ideen immer starken Rückhalt. Er galt als Experte - obwohl er dafür eigentlich gar nicht ausgebildet war. Jegge hatte zwar ein Primarlehrerpatent, aber keines für die Oberstufe und keine heilpädagogische Ausbildung.
Trotzdem konnte er während 14 Jahren als Sonderklassenlehrer arbeiten. Niemand sei auf die Idee gekommen, von ihm das Nachholen der Ausbildung zu verlangen, schreibt Budliger in der Untersuchung.
Grosse Freiheiten erhielt Jegge auch für seinen Schulversuch in Lufingen. Der Verantwortliche des Kantons genehmigte, dass Jegge fünf Schüler in seiner Privatwohnung unterrichten durfte - während eineinhalb Jahren ohne jegliche Kontrolle von aussen.
Der damalige Erziehungsdirektor, der im Februar 2018 verstorbene ehemalige Regierungsrat Alfred Gilgen (LdU), wurde erst nach Projektstart darüber informiert und war alles andere als begeistert. Er habe den Zuständigen bei der Erziehungsdirektion scharf gerügt. Allerdings genehmigte Gilgen den Wohnungs-Unterricht dann doch.
"Dieses Sondersetting ist aus heutiger Sicht unverständlich und problematisch", schreibt Budliger. Es gebe keine gesetzliche Grundlage dafür und habe Jegge viel Freiraum verschafft.
Aber auch das Vorgehen des Kantons müsse in einen zeitlichen Kontext gestellt werden, betont Budliger. Es sei rechtmässig gewesen, Jegges Ansätze zu testen. Der zuständige Mitarbeiter bei der Erziehungsdirektion habe als Macher gegolten, als offen für Neues.
Zu viele Freiheiten
Budliger betont im Bericht, dass aber "mit Sicherheit davon ausgegangen werden kann, dass bei der Erziehungsdirektion niemand von den Missbräuchen wusste und Jegge schützen wollte".
Der Umgang mit Lehrern bei "Unzuchtsfällen" war damals eher unzimperlich. Sie wurde meist fristlos entlassen, ohne das Strafverfahren abzuwarten. Eine Unschuldsvermutung gab es nicht.
Zusammengefasst sieht die Untersuchung die Probleme bei allen Behörden, die mit Jegge zu tun hatten: Jene in Gemeinde und Bezirk hätten aus heutiger Sicht zu zögerlich und führungsschwach gehandelt. Der Kanton wiederum habe ihm zu viele Freiheiten gewährt.
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