Armut Brasiliens Mütter tragen Hauptlast der Pandemie

AP/toko

31.3.2021

Eine Mitarbeiterin des Gesundheitswesens verabreicht einer Frau eine Spritze mit dem Sinovac-Impfstoff. Die Corona-Pandemie hat Brasilien hart getroffen — am Schlimmsten die Mütter.
Eine Mitarbeiterin des Gesundheitswesens verabreicht einer Frau eine Spritze mit dem Sinovac-Impfstoff. Die Corona-Pandemie hat Brasilien hart getroffen — am Schlimmsten die Mütter.
AP Photo/Eraldo Peres/Keystone

Berufstätige Frauen weltweit zahlen einen hohen Preis während der Krise. In Brasilien zeigt sich das besonders deutlich.

Die Stadt São Paulo suchte im Februar auf einen Schlag 4500 neue Reinigungskräfte für ihre Schulen. Zum einen ging es bei der Initiative darum, die Hygienevorschriften in der Pandemie einzuhalten, zum anderen auch darum, arbeitslosen Müttern ein Auskommen zu ermöglichen. Die Resonanz war überwältigend. Innerhalb von zwei Tagen bewarben sich mehr als 90'000 Frauen auf die Stellen. Die Zahl gibt einen Eindruck davon, wie viele Brasilianerinnen durch die Pandemie in Not geraten sind.

«Das hat unsere Erwartungen bei weitem übertroffen», sagt Armando Junior, der die Initiative gemeinsam mit anderen ins Leben rief. Marilene Paixão war eine der glücklichen Bewerberinnen, die ausgewählt wurden. «Diese Stelle hat mir der Himmel geschickt», erklärt sie. Allerdings hielt ihre Freude nicht lange an: Nur einen Monat nach ihrer Anstellung Mitte Februar schloss São Paulo am 15. März seine Schulen angesichts hoher Infektionszahlen wieder.

Frauen weltweit besonders betroffen

Die Arbeitslosigkeit unter den brasilianischen Frauen ist in der Pandemie stark gestiegen, nicht nur in Brasilien, sondern weltweit. Viele Mütter arbeiten weniger als vor Corona, unterrichten gleichzeitig ihre Kinder und erledigen die anfallenden Hausarbeiten. Andere haben ihre Berufstätigkeit gleich ganz aufgegeben oder wurden entlassen. Derweil breitet sich das Virus weiter stark aus, Brasilien ist inzwischen eines der am stärksten betroffenen Länder weltweit. Das Land stellt zwar nur drei Prozent der Erdbevölkerung, verzeichnet mit durchschnittlich 2 400 Todesfällen pro Tag aber mehr als ein Viertel aller Toten durch Covid-19, wie aus Daten der Johns-Hopkins-Universität hervorgeht.

Die Pandemie hat die ohnehin nicht gerade rosige Lage auf dem Arbeitsmarkt für die brasilianischen Frauen weiter verschlechtert. Seit den 50er Jahren stieg der Anteil der Frauen an der Arbeitnehmerschaft stetig an, erreichte aber ab 2010 ein Plateau. Schon vor der Pandemie waren nur 53 Prozent der Frauen auf dem offiziellen Arbeitsmarkt beschäftigt, während es bei den Männern 71 Prozent waren. Das liegt teilweise an der fehlenden Kinderbetreuung. In den öffentlichen Schulen in Brasilien wird nur halbtags unterrichtet. Mütter entscheiden sich daher häufiger dafür, schwarz zu arbeiten oder sind in gering bezahlten Dienstleistungen tätig, zum Beispiel als Hauspersonal.

«All diese Vorerkrankungen hat die Pandemie noch verschlimmert», erklärt die Wirtschaftswissenschaftlerin und Professorin Solange Gonçalves aus São Paulo. «In einer Rezession müssen die weniger qualifizierten Mitarbeiter zuerst gehen.»



Solchen Menschen hilft Maria de Lourdes do Carmo als Koordinatorin einer Gruppe, die Schwarzarbeiter in Rio de Janeiro unterstützt. Sie erklärt, zuletzt habe die Zahl der Hilfesuchenden deutlich zugenommen. Do Carmo weiss, wovon sie spricht: Sie verkauft seit 26 Jahren im einst florierenden Zentrum der Stadt Damenkleidung auf der Strasse. Im vergangenen Jahr beschloss sie jedoch, ihren Stand dauerhaft zu schliessen. «Ich bin seitdem nicht zurückgegangen», erklärt sie. «Das Geschäft läuft einfach nicht. Die Strasse ist leer.»

Auch die Krankenschwester Thassy Cruz hat das Virus unerwartet den Job gekostet. Die 26-Jährige arbeitete in einem Krankenhaus in São Paulo, das inzwischen ausschliesslich Corona-Patienten behandelt. Ihre acht Jahre alte Tochter Alice leidet unter einer asthmatischen Bronchitis und wäre damit im Falle einer Corona-Infektion besonders gefährdet. Cruz gab ihre Stelle auf, weil sie aus Sicherheitsgründen nicht mit infizierten Patienten arbeiten wollte. Nun fühle sie sich hoffnungslos. «Nicht zu arbeiten betrifft nicht nur das Bezahlen von Rechnungen», erklärt sie. «Es geht darum, sich nützlich zu fühlen, Teil der Gesellschaft zu sein.»



«Ich muss für mich selbst sorgen»

Die steigende Arbeitslosigkeit spiegelt sich in den Portemonnaies wider. In Brasilien fiel das Durchschnittseinkommen von Frauen 2020 um 6,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, wie der Direktor des Zentrums für Sozialpolitik der Stiftung Getulio Vargas, Marcelo Neri, erläutert. Bei den Männern fiel der Rückgang mit 3,4 Prozent geringer aus.

Die brasilianische Regierung legte ein Nothilfeprogramm auf, von dem fast 70 Millionen Menschen profitierten. Alleinerziehende Mütter erhielten dabei eine doppelt so hohe Summe wie kinderlose Antragsteller. Eine der Empfängerinnen war Kelly Regina da Silva. Vor Beginn der Pandemie hatte die 25-Jährige gerade den Ausstieg aus einem Elendsviertel geschafft und eine Hauptrolle in einem Theaterstück ergattert. Dann jedoch schlossen Geschäfte, Restaurants und Kultureinrichtungen und das Ensemble zerfiel. Da Silva musste ihre Wohnung aufgeben, wohnte bei ihrer Schwester, ihrer Mutter, dann bei einem Freund. Als sie schwanger wurde, trennte sich das Paar. Das Nothilfeprogramm endete im Dezember.

Jetzt ist da Silva im siebten Monat schwanger und wohnt in einem kleinen Zimmer in einem besetzten Haus. Sie arbeitet in einem Supermarkt, was immerhin etwas Stabilität verspricht, denn die Supermärkte bleiben auch in der Pandemie stets geöffnet. Trotzdem hat sie Angst, denn sie fürchtet, sich und das Ungeborene mit dem Virus anzustecken.

Der brasilianische Kongress hat eine Fortsetzung der Hilfszahlungen kürzlich genehmigt, aber die Bedingungen verschärft. Da Silva hat keinen Anspruch. «Ich muss für mich selbst sorgen», sagt sie.