Steigende Corona-Zahlen Nimmt die Küsschenkultur dauerhaft Schaden?

dpa/tafu

14.11.2021 - 21:00

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und die deutsche Noch-Bundeskanzlerin Angela Merkel geben sich Küsschen.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und die deutsche Noch-Bundeskanzlerin Angela Merkel geben sich Küsschen.
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Küsschen links und Küsschen rechts, die Franzosen müssen bei ihrem Begrüssungsritual wegen Corona derzeit Verzicht üben. Auch in der Schweiz hat man Abschied von den drei Küsschen genommen – etwa für immer?

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Die Corona-Zahlen steigen wieder stark an. Entsprechend zögerlich stehen sich viele Menschen in Frankreich derzeit bei der Begrüssung gegenüber. Ist der mit der Corona-Pandemie in Ungnade gefallene traditionelle Wangenkuss trotzdem wieder möglich oder beschränkt man sich mit dem Küsschen links und Küsschen rechts – anders als früher – nur noch auf sehr enge Bekannte?

Die Frage ist von nationaler Tragweite, die Zeitung «Le Parisien» titelte kürzlich: «Können wir uns wirklich wieder per Wangenkuss begrüssen?»

Auch in Frankreich steigen die Zahlen wieder

Auf einer Doppelseite gaben mehrere Experten ihre Einschätzung ab, wobei für den Virologen klar ist: Ein kurzes Schulterklopfen ist derzeit noch die sicherere Form der Begrüssung mit Körperkontakt. Denn auch wenn die Corona-Lage in Frankreich mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von zuletzt knapp 70 weniger angespannt als in der Schweiz ist, steigen auch dort die Zahlen wieder.

Dabei kehrten nach Daten der Gesundheitsbehörden etliche Französinnen und Franzosen bereits seit dem Sommer zum Wangenkuss, dem «faire la bise», zurück. Nur noch 58 Prozent gaben an, bei der Begrüssung auf Handschlag oder Wangenkuss zu verzichten, hiess es im September, ein Jahr davor übten noch 66 Prozent Verzicht.

Und nach einer Mitte Oktober vorgelegte Studie des Umfrageinstituts Ifop hält die Rückkehr des Wangenkusses seitdem an. 65 Prozent der Menschen in Frankreich praktizieren demnach bereits im Kreis von Freunden und Kollegen das Küsschen-Ritual wieder, 26 Prozentpunkte mehr als noch ein halbes Jahr zuvor.

Die «bises» gehören einfach dazu

Dabei ist man bei den Küsschen, die übrigens nicht auf die Wange geschmatzt sondern angedeutet in die Luft gehaucht werden, noch nicht auf Vorkrisenniveau zurückgekehrt. Bei 91 Prozent der Begrüssungen im vertrauten Kreis gehörten die «bises» zuvor dazu.

Und auch bei offiziellen Anlässen: So durften etwa bei den Treffen von Kanzlerin Angela Merkel und Präsident Emmanuel Macron – zumindest vor Corona – die Küsschen nie fehlen.



«Seit meine Familie und Bekannten geimpft sind, spielen die Abstandsregeln keine Rolle mehr», erzählt Juliette (20) dem Nachrichtenmagazin «L'Express». «Wenn ich zu einer Freundin gehe, wasche ich mir bei der Ankunft zwar die Hände, aber wir geben uns ein Küsschen.»

Pierre (32) ist vorsichtiger, er beschränkt das Begrüssungsritual auf die Familie. «Unter Freunden gibt es keinen Wangenkuss, aber das ist immer komisch, es gibt diesen Moment des Zögerns, gebe ich einen Kuss oder nicht?» Auch Clara (26) begrüsst seit ihrer Impfung ihr Umfeld wieder so wie früher. «Wenn die Lage aber wieder schlimmer wird, halte ich mich wieder korrekt an die Vorschriften», sagt sie «L'Express».

Und in der Schweiz?

Nicht nur in Frankreich, auch in der Schweiz waren Küsschen, drei an der Zahl, vor Corona eine beliebte Form der Begrüssung. Knigge-Expertin Katrin Künzle hält davon nicht viel – und das nicht erst seit der Virus die Welt in Atem hält, wie sie blue News verriet

«Schon vor der Pandemie haben es viele nicht geschätzt, mit Küsschen begrüsst zu werden, wobei das wiederum anderen egal war: Die haben ihr Gegenüber dann regelrecht an sich herangezogen und abgeküsst.» Sie begrüsse es daher, dass nun mehr Distanz gewahrt werde.

Allerdings gehöre dagegen ein Handschlag einfach zu unserer Kultur. «Ich bin aber auch nicht unglücklich, dass wir uns momentan weniger berühren. Und generell erwarte ich, dass wir eine gewisse Distanz auch nach der Pandemie beibehalten werden.»



Knigge-Experte Christoph Stokar glaubt dagegen, dass die Küsschen zur Begrüssung wieder so wie vorher zurückkehren werden, wie er im Juni beim «SRF» erklärte. «In der Corona-Zeit sind wir etwas dünnhäutig geworden. Deshalb müssen wir uns wieder eine gewisse Gelassenheit aus der Zeit vor der Coronakrise aneignen.» Eine Umfrage auf der Website des «SRF» ergibt da allerdings ein anderes Bild:  Auf die Frage, ob man sich die drei Küsschen zurückwünsche, antworteten 72 Prozent der User mit «Nein».

Eine Zukunft ohne Küsschen?

Möglich also, dass auch die französische Küsschenkultur durch Corona dauerhaft Schaden nehmen wird.  Vielleicht werden die «bises» nicht mehr so automatisch ausgeteilt werden wie bisher, sagte der Soziologe Jean-Claude Kaufmann, zugleich Autor eines Fachbuchs über das Küssen, dem «Parisien».



Auch die #MeToo-Bewegung führe zu einer neuen Bewertung der Körperkontakte. «Auf jeden Fall werden die Küsschen viel selektiver sein, man wird sie der Familie, Freunden und engen Kollegen vorbehalten – und ob sie darüber hinaus zurückkehren ist nicht sicher, das wird sich jeweils im Einzelfall entscheiden.»

Sollten die Küsschen nicht zurückkehren, ist das allerdings alles andere als schlimm, betonte der Schweizer Stilexperte Jeroen van Rooijen bereits im vergangenen Jahr im Gespräch mit blue News. «Die drei Küsschen könnten uns langfristig abhandenkommen. Das ist kein Kulturverlust. Dieses Geküsse machen die meisten Leute ohnehin nur widerwillig. Es ist zudem altmodisch, die Jungen umarmen sich stattdessen längst.»

dpa/tafu