Abgelegene Bergdörfer in Marokko Experte befürchtet weit mehr Todesopfer durch Erdbeben

AP/toko

9.9.2023 - 18:32

Bewohner fliehen aus ihren Häusern in der Nähe des Epizentrums.
Bewohner fliehen aus ihren Häusern in der Nähe des Epizentrums.
Mosa'ab Elshamy/AP/dpa

Ein Experte geht davon aus, dass die Opferzahl des Erdbebens in Marokko weit höher liegen könnte, sobald mehr Informationen aus Bergdörfern im Hohen Atlas vorliegen. In einem Ort stehen viele Familien vor dem Nichts.

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  • Bei dem schweren Erdbeben in Marokko sind bislang mehr als 1000 Todesopfer zu beklagen.
  • Das Ausmass der Schäden wird nur langsam ersichtlich, weil viele Gegenden etwa in Al Haouz nicht oder nur schwer erreichbar waren
  • Ein Experte geht davon aus, dass die Opferzahl weit höher liegt. Weite Teile des Erdbebengebiets sind nur schwer zugänglich.

Frauen und Kinder sitzen auf Decken vor den Trümmern ihrer Häuser, ausserhalb des Dorfes heben die Männer Gräber für die Toten aus. In der kleinen Ortschaft Moulay Brahim in den Bergen südlich von Marrakesch hat das Erdbeben gewaltige Schäden angerichtet. Viele der Häuser sind nicht mehr bewohnbar. In einem Minarett klafft ein riesiger Riss. Es droht jederzeit in sich zusammenstürzen, genauso wie ein nahe gelegenes Hotel.

Bewohner Ayoub Toudite sagte der Nachrichtenagentur AP, innerhalb von zehn Sekunden nach dem Erdbeben am Freitagabend sei alles vorbei gewesen. «Es war ein gewaltige Erschütterung — als wäre es der Weltuntergang». Allein in seiner Gegend habe es 20 Tote und 30 Verletzte gebeben.

Viele Dorfbewohner kamen am Samstag zusammen, um die Toten von Moulay Brahim zu Grabe zu tragen. Die Leichen wurden in bunte Decken gehüllt und aufgebahrt. Hamza Lamghani berichtete, er habe fünf seiner engsten Freunde durch das Beben verloren. «Wir können nur beten», sagte er.

Gleichzeitig ging die Suche nach möglichen Überlebenden weiter. Mit Hämmern und Äxten versuchten Helfer, einen Mann zu befreien, der unter den Trümmern eines Hauses verschüttet wurde. Nachbarn zwängten sich durch einen engen Spalt, um ihm Wasser zu geben. «Wir haben alle Angst, dass das noch mal passiert», sagte Toudite. Im Zentrum des Ortes wurde ein Zelt errichtet, das normalerweise für Feiern verwendet wurde, um obdachlos gewordenen Familien Unterschlupf zu bieten.

Ähnliche Szenen wie diese, die ein Fotoreporter der Nachrichtenagentur AP in Moulay Brahim beobachtete, dürften sich auch in vielen anderen Orten in der von dem Erdbeben am schlimmsten betroffenen Region abspielen. Doch viele der Bergdörfer waren nicht oder nur schwer zugänglich. Auf den steilen Serpentinenstrassen von Marrakesch nach Al Haouz im Hohen Atlas versperrten immer wieder Steine und Felsen den Weg. Krankenwagen und Autos umfuhren hupend die herabgefallenen Brocken. Teilweise mit blossen Händen versuchten Helfer, den Weg freizubekommen.

Heftige Schäden durch geringe Tiefe

Das Zentrum des Bebens lag laut der US-Erdbebenwarte USGS nahe der Stadt Ighil in Al Haouz in nur 18 Kilometern Tiefe. Das Seismologische Institut von Marokko meldete eine Tiefe von elf Kilometern. Erdbeben in so geringer Tiefe richten oft besonders heftige Schäden an.

Am Samstagnachmittag lag die bestätigte Opferzahl bei landesweit mehr als 1000. Experte Bill McGuire, ein emeritierter Professor am University College in London ging davon aus, es letztlich mehrere tausend Opfer geben könnte. Weil es in der Gegend selten solche heftigen Erdbeben gebe, seien die Häuser einfach nicht robust genug gebaut, um solchen Erschütterungen zu widerstehen, sagte er.

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Abderrahim Ait Daoud, Ortsvorsteher des nahe dem Epizentrum gelegenen Dorfes Talat N'Yaaqoub, sagte der marokkanischen Nachrichtenseite 2M, dass dort und in Nachbarorten mehrere Häuser ganz oder teilweise eingestürzt seien. Der Strom sei zum Teil ausgefallen und Strassen seien blockiert. Weil die einzelnen Dörfer weit von einander entfernt sein, werde es dauern, bis man genau wisse, wie viel zerstört wurde, sagte er.

In Panik auf die Strasse

In der Altstadt von Marrakesch waren am Samstag vielerorts schon wieder Läden und Stände geöffnet. Einwohner und Touristen bahnten sich ihren Weg um herabgestürzte Mauerteile. Beschädigt wurde auch die im 12. Jahrhundert erbaute Koutoubia-Moschee mit ihrem 69 Meter hohen Minarett. Bewohner der Stadt posteten Fotos von Schäden an den berühmten roten Mauern, die die Medina umgeben.

Nach dem heftigen Beben um 23.11 Uhr Ortszeit am Freitagabend waren viele Bewohner und Besucher in Panik auf die Strassen gerannt. Das staatliche Fernsehen zeigte, wie sich die Menschen in der Nacht auf den Strassen von Marrakesch drängten. Aus Angst vor Nachbeben und Schäden an Gebäuden verbrachten einige die Nacht im Freien.

Ein Mann sagte im Fernsehen, in seiner Wohnung seien Teller auf den Boden geregnet und Menschen von den Füssen gerissen worden. Ein Mann mit Kind im Arm berichtete, er sei vom Beben aus dem Schlaf gerissen worden. Einsatzkräfte und Anwohner gruben sich in der Nacht durch die Trümmer eingestürzter oder beschädigter Gebäude auf der Suche nach Überlebenden. Bei Tagesanbruch lief zunehmend auch die Hilfe für Al Haouz und andere Regionen an. Neben Krankenwagen versuchten auch Lastwagen mit Decken, Campingbetten und Generatoren, in die am schlimmsten betroffenen Gegenden vorzudringen, berichtete die marokkanische Nachrichtenagentur MAP.