Im Dornröschenschlaf Vor einem Jahr brannte Notre-Dame – jetzt stockt die Renovierung

Von Julia Naue, dpa/uri

15.4.2020

Ein riesiger Kran überragt die mächtige Kathedrale. Schon von Weitem kann jeder sehen: Notre-Dame ist eine Baustelle. Und daran wird sich so bald nichts ändern – auch ein Jahr nach dem Brand wird das Gebäude gesichert.

Wo die Händler im Schatten der mächtigen Kathedrale normalerweise Bücher und Bilder verkaufen – dort herrscht gähnende Leere. Ihre Stände am Seine-Ufer sind verrammelt. Normalerweise drängen sich hier die Touristen, daran hat auch die Brandkatastrophe von Notre-Dame nichts geändert. Kurz nach dem Feuer, das sich am 15. April zum ersten Mal jährt, waren die Strassen und Brücken rund um das weltberühmte Wahrzeichen vielleicht sogar so voll wie nie. Notre-Dame steht noch, hat das Feuer schwer beschädigt überstanden – doch nun hat die Corona-Krise die wohl berühmteste Baustelle Frankreichs in einen Dornröschenschlaf versetzt. Und das ist nicht der erste Rückschlag.

Rückblick: Es war ein lauer Frühlingsabend, als die Nachricht vom Feuer in Notre-Dame die Runde machte. Schnell war klar: Das ist weit mehr als ein kleiner Brand, die Kathedrale drohte einzustürzen – der Vierungsturm auf dem Dach tat es. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron eilte auf die Île de la Cité – die Seine-Insel, auf der das rund 850 Jahre alte Bauwerk steht. Erst am nächsten Morgen war klar: Das Feuer ist gelöscht, die Kirche vorerst gerettet. Die ganze Welt nahm Anteil, Hunderte Millionen von Spenden kamen für den Wiederaufbau zusammen.

Dach kann noch nicht geschlossen werden

Der gestaltet sich nun schwierig – denn die Sicherungsarbeiten sind ein Jahr später immer noch nicht abgeschlossen. Auf der Baustelle steht ein riesiger Kran, Fenster sind mit Folien verhangen, die mächtigen Strebebögen mit Holz gestützt. Eine schwere Balkenkonstruktion wurde auf die Kirchenmauern gelegt. Es ist eine Operation am offenen Herzen. Doch trotz der schweren Schäden thront Notre-Dame stolz auf der Île de la Cité.



«Doch das Problem ist es immer noch, das Gerüst, das auf dem Dach steht, herunterzubekommen. Das abzubauen, ohne dass das Gewölbe einstürzt, ist immer noch das Schwierigste», sagt die frühere Kölner Dombaumeisterin Barbara Schock-Werner. Sie koordiniert die deutsche Hilfe beim Wiederaufbau. «Solange das Problem nicht gelöst ist, sind im Grunde alle anderen Fragen erst mal zurückgestellt.» Vor dem Brand war das Baugerüst für Renovierungsarbeiten auf dem Dach aufgebaut worden. Bei dem Feuer ist es teilweise geschmolzen.

«Das Problem ist, dass man das Dach nicht schliessen kann, solange das Gerüst dort ist. Da kann der Wind reinpfeifen. Und wenn es stark regnet, kommt die Feuchtigkeit da wieder rein», sagt Professor Stephan Albrecht von der Universität Bamberg. Der Kunsthistoriker hilft beim Wiederaufbau – er stellt Farbanalysen und 3D-Aufnahmen zur Verfügung. «Von der Universität Bamberg kommt da zum Beispiel das komplette Querhaus innen und aussen. Dann gibt es eine Firma, die hat den Dachstuhl. Und dann gibt es noch relativ alte Daten von der Columbia University», so der Experte.

Macrons Versprechen ist schwer zu halten

Gleichzeitig werde zum Beispiel mit Drohnen an einem aktuellen Modell der Kathedrale nach dem Brand gearbeitet. «Wenn man die beiden Modelle miteinander vergleicht, kann man zum Beispiel sehen, inwiefern sich die Wände durch den Brand verändert haben», erklärt er. Das ist seiner Ansicht nach auch wichtig, weil die Wände des Querhauses im oberen Bereich schon vor dem Brand relativ schief gewesen seien. «Wir fürchten, dass sonst ein Statiker die falschen Schlüsse ziehen könnte und zusätzliche Stützen einzieht, die nicht notwendig sind.»

Dass es die 3D-Aufnahmen der Kathedrale vor dem Feuer gibt, ist für den Wiederaufbau eine positive Überraschung gewesen. Ganz anders sieht das beim Thema Blei aus. In der Dachkonstruktion und der Turmabdeckung war tonnenweise davon verbaut. Bei dem Feuer ist es geschmolzen und hat die Umgebung verschmutzt. Im Sommer mussten deswegen die Arbeiten an der Kathedrale sogar unterbrochen werden. «Irgendwie steht das unter einem schlechten Stern. Zunächst war es das Blei, jetzt ist es Corona. Bisher konnte man im Grunde ausser Sicherungsarbeiten noch gar nichts machen», sagt Albrecht, der sich eng mit den französischen Expertinnen und Experten abstimmt.



Innerhalb von fünf Jahren, das hatte Macron versprochen, soll die Kathedrale wieder aufgebaut werden. Daran gab es von Anfang an Zweifel, jetzt umso mehr. «Das ist natürlich überhaupt nicht zu schaffen, das ist klar – das wäre jetzt auch kontraproduktiv, darauf zu drängen», sagt Albrecht. Doch je länger es dauert, desto schwieriger ist das auch für die Menschen, die mit der Kirche verbunden sind. Dutzende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in der Kathedrale beschäftigt waren, verloren ihre Jobs. Die Gemeinde war plötzlich heimatlos, sie wurde schliesslich in der Pfarrkirche Saint-Germain-l'Auxerrois aufgenommen.

Im Frühling sollten erste Führungen starten

Am Freitag vor dem Brand hat Helgard Zahlen ihre letzte Führung in der Kathedrale gegeben. Die heute 78-Jährige führt deutschsprachige Touristen seit 2006 ehrenamtlich durch Notre-Dame. Die gelernte Übersetzerin lebt seit Jahrzehnten in Frankreich – am Abend des Brandes hatte sie vor dem Fernseher bis tief in die Nacht um Notre-Dame gebangt. «Es hat mich total erschüttert, dass mir die Tränen gekommen sind.»

Der Verein Casa, für den Zahlen arbeitet und der Führungen in vielen verschiedenen Sprachen anbietet, finanziert sich über Spenden. «Seit dem Brand kommen natürlich keine Gelder mehr», sagt Zahlen. Der Plan war es, im späten Frühjahr oder Frühsommer zumindest wieder Führungen an der Fassade anzubieten – doch wegen Corona könnte sich dies nun auch erst mal weiter verzögern.



Für Notre-Dame hat sie bereits eine Leidenschaft, so lange sie denken kann. «Vielleicht auch, weil meine Eltern Kunsthistoriker und Germanisten waren und ich da ein Grundwissen habe», erzählt die 78-Jährige. «Ich denke aber auch, dass ich als Kölnerin, die mit dem Dom gross geworden ist, eine gewisse Prägung erfahren habe.» Ab und an besucht sie die Kathedrale – zumindest von aussen, auch wenn im Moment wegen Corona nicht einmal das möglich ist. «Es ist mir fast ein Bedürfnis, die Kathedrale auch in diesem zerstörten Zustand zu sehen und ihren Wiederaufbau zu verfolgen.»

Unklar, wie es weitergeht

An Notre-Dame bewundert sie vor allem die rein gotische Architektur, die die Jahrhunderte ohne grössere Schäden überdauert hat und auch ihre Lebendigkeit. «Täglich wurden Messen gefeiert, die allen zugänglich waren.» Traurig und voller Freude zugleich erinnert sie sich an die wöchentlichen Prozessionen.

Wann diese das nächste Mal in Notre-Dame möglich sein werden und wie sehr Corona die Arbeiten weiter verzögern wird – all das ist im Moment unklar. Wie es weitergeht, vermag auch der Pariser Erzbischof Michel Aupetit nicht zu sagen: «Ich bin ein Erzbischof, kein Prophet.» Doch er ist überzeugt: Es sei nicht Gott gewesen, der die Coronavirus-Pandemie schuf oder das Feuer verursachte. «Aber Gott kann immer etwas Grösseres aus dem Unglück ziehen, das uns trifft.»

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