Venedig am Scheideweg Neuerfindung oder zurück zum Massentourismus?

dpa/toko

1.6.2020

Wie aus längst vergangenen Zeiten: In der Zeit des Pre-Openings der Art Biennale Venedig 2019 spazieren Touristen über den Markusplatz.
Wie aus längst vergangenen Zeiten: In der Zeit des Pre-Openings der Art Biennale Venedig 2019 spazieren Touristen über den Markusplatz.
Felix Hörhager/dpa

Corona hat Venedig vor Augen geführt, wie fatal eine touristische Monokultur ist. Die Stadt, die einst überrannt wurde, fleht nun um Urlauber. Der Bürgermeister verspricht für die Zukunft einen «intelligenten» Tourismus. Doch wie soll der funktionieren?

Schilder wie «Nicht hinsetzen», «Respekt für Venedig» oder «Priorität für Venezianer» sind aus längst vergangenen Zeiten. Zeiten, in denen Venedig noch über eine Beschränkung für Touristen diskutierte. In der geschimpft wurde über den Massentourismus, die vielen Menschen, die die kleinen Gassen verstopfen und ihr Picknick auf der Rialto-Brücke machen. Über die Kreuzfahrtschiffe, die eigentlich keiner haben will und doch so viele brauchen.

Mittlerweile hört man das Klackern der eigenen Schuhe in den Gassen oder das Schwappen der Wellen in den Kanälen lauter als den Rummel von Touristenmassen. Seit der Corona-Abriegelung ist Venedig in der Krise. Venezianer oder Italiener aus der Region entdecken zwar auf einmal die Stadt für sich und geniessen eine fast magische Atmosphäre — doch das Geld für Hoteliers, Restaurantbesitzer, Touristenführer und die Kommune fehlt. Die wirtschaftlichen Schäden sind kaum zu beziffern.



«Wir stehen heute vor einer Stadt, die wirklich leer und an einem Punkt Null ist», sagt Touristenführerin Elena Degan. Die alleinerziehende Mutter lebt wie so viele andere auch von Touristen und hat seit März keine Einnahmen. Gleichzeitig sind ihr die Massen zuwider. «Die Lage in Venedig, Rom oder Florenz hat ein unerträgliches Mass erreicht.» Sie wohnt im Zentrum von Venedig. Überall, wo ein Handwerker schliesse, entstehe ein Bed & Breakfast oder ein Hotel, erzählt sie.

Gondeln sind auf dem Canal Grande an Holzpfählen festgemacht.
Gondeln sind auf dem Canal Grande an Holzpfählen festgemacht.
Anteo Marinoni/LaPresse/AP/dpa

Auf nur noch etwa 50000 Einwohner kommt die UNESCO-Welterbestadt. Die meisten Menschen ziehen nach Mestre aufs Festland. Dafür ist der Tourismus in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen, im letzten Jahr waren es laut Region rund 13 Millionen Übernachtungen. Daher wollte die Stadt eigentlich ab 1. Juli eine umstrittene «Eintrittssteuer» verlangen. Dann kam Covid-19. Die Steuer wurde auf nächstes Jahr verschoben. Und die Politiker flehen auf einmal um Touristen.

«Wir sind wieder geöffnet», verkündete Bürgermeister Luigi Brugnaro. Eine «beruhigende Botschaft» an die Welt sei nun notwendig: Venedig ist sicher. Jetzt müssten die Grenzen wieder öffnen. Denn nur dann kann der für Venedig besonders wichtige internationale Tourismus wieder beginnen. Schliesslich kommen die meisten Besucher aus den USA, aus China, Grossbritannien und Deutschland. Ab Montag dürfen EU-Bürger wieder nach Italien reisen.



Von einer «Covid-freien» Region spricht der Regionalpräsident von Venetien, Luca Zaia. Das stimmt zwar nicht ganz. Venetien war einer der ersten beiden Brandherde in Italien. Doch im Vergleich zur benachbarten Lombardei hat die Region die Lage mit vielen Tests in den Griff bekommen und hat nun noch etwa 2000 positive Fälle gemeldet.

Auch nach Hochwasser bleiben Touristen weg

Venedig hat schon vor Corona bitter erleben müssen, was es bedeutet, wenn man einzig auf Touristen setzt und die plötzlich wegbleiben: Im November richtete ein Hochwasser grosse Schäden an, die Bilder von einer tagelang überfluteten Stadt vergraulten die Besucher.

Städte, die hauptsächlich vom ausländischen Tourismus leben, wie Venedig und Florenz, würden nun grössere Verluste erleiden als Städte, die auch von inneritalienischen Besuchen lebten, heisst es in einer Studie der italienischen Fremdenverkehrszentrale Enit. Dort würde sich der Tourismus bis 2023 nicht vollständig erholen.

Bürgermeister Brugnaro verspricht nun Klasse statt Masse. Also einen «neuen und intelligenten Tourismus». Doch was genau er dafür tun will, ist unklar.

«Wir erleben gerade einen Tourismus der Nähe, so wie es vor 50 Jahren war», sagt der Umweltwissenschaftler Giovanni Cecconi von der Universität Ca' Foscari in Venedig. «Es reicht jetzt nicht, einfach wieder zu öffnen und so weiterzumachen wie vorher.» Nicht nur die Menschen aus der Umgebung würden wieder nach Venedig kommen. Fische und Vögel seien in die Lagune zurückgekehrt, weil sie vom Motorenlärm der vielen Schiffe nicht mehr abgeschreckt würden. Ohne Motorverkehr auf den Gewässern steige die Wasserqualität.

Kreuzfahrttourismus liegt brach

Auch legen derzeit keine Kreuzfahrtschiffe in Venedig an. Cecconi ist der Meinung, dass die Zeit, in der der Kreuzfahrttourismus brach liege, genutzt werden müsse, um sich ein Modell für die Zukunft zu überlegen und den Hafen aus Venedig hinaus zu verlegen. «Der Kreuzfahrttourismus ist das Maximum an oberflächlichem Tourismus.» Seit Jahren wird darüber gestritten, dass die Kreuzer Umwelt und Substanz der Stadt zerstören.

Das Aktionsbündnis No Grandi Navi will nicht nur ein Ende der Kreuzfahrtschiffe in der gesamten Lagune. Die Organisation hat jetzt eine Liste mit Forderungen für die Zukunft parat: ehrliche Gastronomie für Bewohner und Touristen gleichermassen, Ansiedelung von Handwerkern und Künstlern im historischen Zentrum, erschwingliche Mieten für Einheimische und ein Limit für Ferienwohnungen.

Venedig steht nun am Scheideweg: Zurück zu einem für Anwohner und Besucher gleichermassen unerträglichem Massentourismus? Oder hat die Stadt nun wirklich den Mut, in eine neue, nachhaltigere Zukunft zu starten?


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