Zwei Tote bei Schüssen im ostdeutschen Halle Rechtsextremist wollte Massaker in Synagoge anrichten

DPA/phi/tjb/toko

9.10.2019

Die jüdische Gemeinde in Halle entgeht nur knapp einer Katastrophe. Ein Attentäter will das Gotteshaus stürmen, scheitert aber. Es soll ein 27-jähriger Deutscher sein.

Ein schwer bewaffneter Täter hat versucht, in einer Synagoge in Halle/Saale im ostdeutschen Bundesland Sachsen-Anhalt ein Blutbad unter rund 80 Gläubigen anzurichten. Die jüdische Gemeinde entging an ihrem höchsten Feiertag Jom Kippur nur knapp einer Katastrophe.

Der mutmassliche Rechtsextremist Stephan B. aus Sachsen-Anhalt wollte nach Angaben aus Sicherheitskreisen am Mittwochmittag die Synagoge mit Waffengewalt stürmen, scheiterte jedoch. Danach soll der 27-jährige Deutsche vor der Synagoge und in einem nahen Döner-Imbiss zwei Menschen erschossen und mindestens zwei weitere verletzt haben. Er floh vom Tatort und wurde am Nachmittag festgenommen.

Erst nach langen Stunden des Wartens wurde klar, dass es sich um einen Einzeltäter handelte. Der deutsche Innenminister Horst Seehofer sprach am Abend von einem antisemitischen Motiv. Der Generalbundesanwalt, der die Ermittlungen rasch an sich gezogen hatte, habe zudem «ausreichend Anhaltspunkte für einen möglichen rechtsextremistischen Hintergrund». Seehofer sagte weiter: «Der höchste jüdische Feiertag Jom Kippur ist heute ein schwarzer Tag. Ein schwer bewaffneter Täter hat versucht, in eine Synagoge einzudringen, in der sich rund 80 Menschen aufhielten.»

Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, sagte am Abend: «Die Brutalität des Angriffs übersteigt alles bisher Dagewesene der vergangenen Jahre und ist für alle Juden in Deutschland ein tiefer Schock.» Zugleich erhob er schwere Vorwürfe gegen die Polizei. «Dass die Synagoge in Halle an einem Feiertag wie Jom Kippur nicht durch die Polizei geschützt war, ist skandalös.» Er fügte hinzu: «Wie durch ein Wunder ist nicht noch mehr Unheil geschehen.»

Eine Frau und ein Mann getötet

Bei dem Angriff legte der Täter auch selbstgebastelte Sprengsätze vor dem Gotteshaus ab. Eine Frau wurde nach dpa-Informationen vor der Synagoge von tödlichen Schüssen getroffen. Etwa 30 Meter vor der Synagoge lag sie auf einer Strasse mit einer blauen Decke bedeckt gegenüber der Synagoge. Das Opfer aus dem Döner-Imbiss war ein Mann.

Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Halle, Max Privorozki, bestätigte, dass sich der Angriff der Täter direkt gegen die Synagoge richtete. «Wir haben über die Kamera unserer Synagoge gesehen, dass ein schwer bewaffneter Täter mit Stahlhelm und Gewehr versucht hat, unsere Türen aufzuschiessen», sagte Privorozki der «Stuttgarter Zeitung» und den «Stuttgarter Nachrichten». «Aber unsere Türen haben gehalten.»

Einsatzkräfte bei der Synagoge in Halle, nachdem hier vermutlich ein Rechtsextremist ein Massaker anrichten wollte.
Einsatzkräfte bei der Synagoge in Halle, nachdem hier vermutlich ein Rechtsextremist ein Massaker anrichten wollte.
Bild: EPA/Filip Singer

Die Tat erinnert an den Anschlag eines Rechtsextremisten auf Muslime in zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch, bei dem Mitte März mehr als 50 Menschen getötet worden waren. Wie dieser Täter soll auch der Schütze von Halle eine Kamera auf dem Helm getragen haben. In den sozialen Netzwerken soll er ein Bekennervideo hochgeladen haben.

Darin ist ein junger Mann in Kampfanzug mit weissem Halstuch in einem Auto zu sehen. Der Mann gibt in vermutlich nicht muttersprachlichem Englisch extrem antisemitische Äusserungen von sich. Wie es heisst, soll der Täter in dem Video über «Juden» und «Kanaken» herziehen.

Video: Schiessszenen zu sehen

In dem Video sind auch mehrere Schiessszenen zu sehen. Unter anderem zeigt das Video, wie in einem Döner-Imbiss mehrfach auf einen Mann geschossen wird, der hinter einem Kühlschrank liegt. Das Video liegt dpa vor.



Die Aufnahmen wurden inzwischen von mehreren deutschen Medien sowie Forschern des «International Centre for the Study of Radicalisation» (ICSR) ausgewertet und als «authentisch» bezeichnet. Demnach liesse der Inhalt eindeutig auf einen rechtsextremistischen Hintergrund schliessen. Der Mann bezeichnete sich in dem Video als «Anon» — wie auch die beiden Täter aus El Paso und Christchurch. In dem Video soll der Schütze zudem den Holocaust geleugnet sowie Feminismus beschimpft haben.

Levi Salomon vom Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus bestätigte der dpa nach einem Telefonat mit Privorozki, der maskierte Täter habe gegen die Tür geschossen, dabei aber nicht in die Synagoge eindringen können.

In Synagoge verschanzt

Rund 20 Menschen seien am Nachmittag noch in der Synagoge verschanzt gewesen, darunter auch mehrere Gäste aus den USA. Laut Salomon wurden auch Flaschen mit Flüssigkeit geworfen. Eine habe die Sukka (Laubhütte), eine andere den Jüdischen Friedhof in unmittelbarer Nähe und eine den Hof der Synagoge getroffen. Nur die Flasche gegen den Friedhof habe sich entzündet.

US-Botschafter Richard Grenell sagte, zehn Amerikaner seien in der Synagoge gewesen. «Alle sind sicher und unverletzt», schrieb Grenell auf Twitter.

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel informierte sich über die Lage und sprach den Angehörigen der Opfer ihr tiefes Beileid aus. Am Mittwochabend nahm sie an einer Solidaritätsveranstaltung an der Synagoge in der Oranienburger Strasse in Berlin teil. Die Kanzlerin habe mit Seehofer und Haselhoff gesprochen, twitterte Regierungssprecher Steffen Seibert. Die Solidarität gelte allen Jüdinnen und Juden am Feiertag Jom Kippur.

Die Stadt Halle sprach am frühen Nachmittag von einer «Amoklage» und rief die Menschen überall in Halle dazu auf, in Gebäuden zu bleiben. Zunächst war die Polizei davon ausgegangen, dass mehrere bewaffnete Täter mit einem Auto auf der Flucht seien. Gegen 18.15 Uhr gab sie Entwarnung. «Sie können wieder auf die Strasse, die Warnungen sind aufgehoben», twitterte die Polizei.

Offenbar kein Zusammenhang: Schiesserei in Landsberg

Es gab mindestens zwei weitere Verletzte. Sie wurden mit Schussverletzungen in das Universitätsklinikum Halle gebracht, waren aber am Abend ausser Lebensgefahr.

Auch in Landsberg, rund 15 Kilometer östlich von Halle, gab es Schüsse. Ein Zusammenhang zu Halle war zunächst von den Behörden aber nicht bestätigt worden.

Die Stadt Halle hatte einen Krisenstab einberufen. Alle Rettungskräfte der Feuerwehr waren in Alarmbereitschaft versetzt worden. Die Polizei hatte seit den Mittagsstunden alle verfügbaren Kräfte in Sachsen-Anhalt abgezogen und sie nach Halle verlegt.

Im benachbarten Leipzig hatte die Polizei ihre Kräfte vor der Synagoge verstärkt. Auch in anderen deutschen Städten wurde der Schutz von Synagogen verstärkt.

Bestürzte Reaktionen

Der Bahnhof von Halle war wegen polizeilicher Ermittlungen gesperrt. Es kam zu Verspätungen. Die Bundespolizei verstärkte ihre Kontrollen an Bahnhöfen und Flughäfen in Mitteldeutschland. Das gelte auch für die Verkehrswege nach Polen und Tschechien, hiess es.

Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) zeigte sich entsetzt über die Tat. «Es wurden durch sie nicht nur Menschen aus unserer Mitte gerissen, sie ist auch ein feiger Anschlag auf das friedliche Zusammenleben in unserem Land.»

Aus dem Ausland kamen ebenfalls bestürzte Reaktionen. Das Europaparlament legte eine Schweigeminute für die Opfer ein. In Gedanken sei man bei Deutschland, der deutschen Polizei und bei der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, sagte Parlamentspräsident David Sassoli.

Auch UN-Generalsekretär António Guterres bewerte den Vorfall als «eine weitere tragische Demonstration von Antisemitismus», teilte ein UN-Sprecher in New York mit.

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