Neue GewissheitVerschwörungsgläubige steigen von Covid auf die Vogelgrippe um
Von David Klepper, AP/uri
21.5.2022 - 11:40
Erst war es Corona, jetzt ist es die Vogelgrippe: Verschwörungstheoretiker haben ein neues Feld für sich entdeckt. Während Geflügelzüchter Millionen Tiere keulen, sprechen sie von purer Erfindung. Oder ist es eine Biowaffe?
Von David Klepper, AP/uri
21.05.2022, 11:40
21.05.2022, 13:49
dpa/uri
Truthahnzüchter Brad Moline im US-Staat Iowa hat es schon einmal erlebt. 2015 vernichtete ein Ausbruch der Vogelgrippe fast seinen gesamten Tierbestand. Zehntausende Vögel mussten gekeult werden, Ställe einst voller Geschnatter wurden plötzlich still. Der Familienbetrieb, 1924 gegründet, war ernstlich gefährdet.
Er erholte sich, aber jetzt ist das Virus zurück, bedroht wieder die Geflügelfarmen im Land. Und diesmal ist noch eine andere schädliche Kraft am Werk: eine starke Welle von Falschinformationen, die besagen, dass die Vogelgrippe nur erfunden sei. «Du willst einfach mit deinem Kopf gegen die Wand schlagen», sagt Moline über die Facebook-Gruppen mit Leuten, die darauf beharren, dass die Vogelgrippe nicht real ist – oder, vielleicht, eine Biowaffe. «Ich verstehe die Frustration darüber, wie Covid gehandhabt worden ist. Ich verstehe den heutigen Mangel an Vertrauen in die Medien. Aber dies (die Vogelgrippe) ist real.»
Sind 5G-Mobilfunkmasten für das Virus verantwortlich?
Zwar stellt das Virus für Menschen nur eine geringe Gefahr dar. Doch der globale Ausbruch hat Züchter bereits gezwungen, Millionen Vögel zu töten. Als Folge könnten die ohnehin schon rasant gestiegenen Nahrungsmittelpreise noch weiter steigen. Zugleich kursieren wieder absurde Fantasien wie jene, die während der Corona-Pandemie aufkamen – was unterstreicht, dass Verschwörungstheorien oft in Zeiten von Unsicherheit auftauchen und dass tiefes Misstrauen gegenüber der Wissenschaft sowie Institutionen dabei eine Rolle spielt.
Und das Internet: Die Behauptungen finden sich in obskuren Online-Foren und auf grösseren Plattformen wie Twitter. Manche Versionen besagen, dass die Vogelgrippe fingiert sei, ein Schwindel, der dazu diene, ein verringertes Geflügelfleisch-Angebot zu rechtfertigen – mit dem Ziel, die Lebensmittelpreise hochzutreiben, entweder, um die globale Wirtschaft zu schädigen oder Leute zu zwingen, Vegetarier zu werden.
In anderen Beiträgen wird eingeräumt, dass die Vogelgrippe wirklich existiere, aber gentechnisch produziert worden sei, als eine Waffe – vielleicht, um neue Lockdowns wie jene wegen Corona auszulösen. Eine in Indien populäre Variante unterstellt, dass 5G-Mobilfunkmasten irgendwie für das Virus verantwortlich seien.
US-Züchter mussten bereits Millionen Tiere töten
Viele, die die Vogelgrippe als «Fake» darstellen, führen oft als eine Art Beweis an, dass die Tiergesundheitsbehörden dieselbe Test-Technologie einsetzten wie sie in Sachen bei Corona benutzt werde. «Sie testen die Tiere mit PCR-Tests auf Vogelgrippe. Das sollte euch einen Hinweis darauf geben, was vor sich geht», schrieb ein Twitter-Nutzer in einem Post, der Tausende Retweets und Likes erntete.
Tatsache ist indes, dass diese Art von Labortests seit Jahrzehnten routinemässig in der Medizin, Biologie und sogar auch bei der Strafverfolgung angewendet wird. Ihr Erfinder erhielt 1993 einen Nobelpreis. Bei den Tests wird das Erbmaterial eines Virus in einer Schleimhautprobe vervielfältigt, wodurch sich der Erreger nachweisen lässt.
Für Züchter in US-Staaten wie Wisconsin, Iowa, Nebraska und South Dakota ist die Vogelgrippe höchst real: Sie mussten bereits Millionen Tiere töten, um eine weitere Ausbreitung der Infektion zu verhindern. Zoos in allen Landesteilen haben exotische Vögel von Aussengehegen in Innenräume verlegt.
«Ich kann Ihnen garantieren, dies ist eine reale Sache»
Die erste bekannte Infektion eines Menschen im Zuge des H5N1-Ausbruchs in den USA wurde im April in Colorado bestätigt. Sie trat bei einem Häftling auf, der beim Keulen und Beseitigen von totem Geflügel auf einer örtlichen Farm geholfen hatte. Die meisten menschlichen Fälle hatten mit direktem Kontakt zu infizierten Vögeln zu tun, was bedeutet, dass das Risiko für die allgemeine Bevölkerung gering ist. Aber Experten haben das intensiv im Blick, um sicherzugehen, wie Keith Paulson vom Veterinary Diagnostic Laboratory in Wisconsin sagt. Das ist eine Behörde, die Tierkrankheiten verfolgt, zum Teil, um die Agrarindustrie im Staat zu schützen.
«Ich kann Ihnen garantieren, dies ist eine reale Sache», sagt Paulson der Nachrichtenagentur AP. «Wir haben das ganz sicher nicht erfunden.»
Umfragen zeigen, dass das Vertrauen vieler Amerikaner in Behörden und andere Institutionen – einschliesslich der Nachrichtenmedien – in den vergangenen Jahren gesunken ist. Dasselbe trifft auch auf die Wissenschaft und wissenschaftliche Experten zu. Die Verschwörungstheorien spiegeln das wider, wenn sie sich auch in ihren Details unterscheiden mögen. Sie blühten und gediehen meistens in Zeiten sozialer Unruhe, öffentlichen Unbehagens und rapiden Wandels, erklärt John Jackson, ein Spezialist für Kommunikation an der University of Pennsylvania. Und das gilt auch in diesem Fall.
Verschwörungstheorien können Macht-Gefühl verschaffen
So drückten sich in der Behauptung, dass die Vogelgrippe eine Erfindung sei, um höhere Preise zu erzielen, auch verbreitete Besorgnisse in der wirklichen Welt aus etwa über Inflation und Lebensmittelmängel, sagen Experten. Die Idee, dass die Grippe irgendwie eine Verbindung mit 5G-Masten habe, unterstreiche vorhandene Ängste vor technologischem Wandel. Und die Darstellung, dass Leute zum Umsteigen auf Vegetarismus gezwungen werden sollten, reflektiere Unsicherheiten über nachhaltige Agrarwirtschaft, den Klimawandel und Tierschutz.
Jackson sagt, Verschwörungstheorien könnten ihren Anhängern eine Gefühl von Macht oder Kontrolle verschaffen, in dem sie solche Erklärungen in die Welt setzten. Aber die Fantasien über weitläufige Verschwörungen von Millionen Menschen, die mit der Effizienz eines Uhrwerks üble Pläne umsetzten, widersprächen jeder Vernunft. «Verschwörungstheorien beruhen auf der Idee, dass Menschen fähig sind, Geheimnisse zu bewahren», so der Experte. «Aber sie unterschätzen die Realität, dass wir nicht sehr gut darin sind.»
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