Schweizer Wirtschaft auf Wachstumskurs «Das Nachsehen haben Länder, die weniger Geld haben»

Von Gil Bieler

22.6.2022

Die Geldpolitik der Schweizerischen Nationalbank helfe der Wirtschaft, sagt der Experte. Im Bild: Die neue 100-Franken-Note wird 2019 enthüllt.
Die Geldpolitik der Schweizerischen Nationalbank helfe der Wirtschaft, sagt der Experte. Im Bild: Die neue 100-Franken-Note wird 2019 enthüllt.
Bild: Keystone

Bei der Wirtschaft läuft es rund – und das dürfte laut Konjunkturforschern der ETH Zürich so bleiben. Zeigen Krieg, Krisen und Inflation etwa gar keine Wirkung? Ökonom Yngwe Abrahamsen klärt auf.

Von Gil Bieler

Plus 2,8 Prozent im laufenden Jahr, im nächsten dann plus 1,3 Prozent: Die Experten der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF) haben ihre Prognosen für das Schweizer Bruttoinlandprodukt am Mittwoch zwar gesenkt, sie rechnen aber immer noch mit einer positiven Entwicklung. Kann das sein? blue News hat bei KOF-Forscher Yngwe Abrahamsen die Hintergründe erfragt. 

Es wirkt paradox: Das Coronavirus erstarkt wieder, die Welt ächzt unter Inflation, der Krieg in der Ukraine dauert an – dennoch soll die Schweizer Wirtschaft laut KOF-Prognose wachsen. Woher dieser Optimismus?

Zu einem grossen Teil beruht der Optimismus auf der Beobachtung, dass es auf dem Arbeitsmarkt sehr gut läuft. Die Unternehmen stellen weiterhin Angestellte ein, und in einigen Branchen haben sie sogar Schwierigkeiten, Leute zu rekrutieren. Das deutet darauf hin, dass die Auftragslage weiterhin sehr gut ist.

Von welchen Branchen sprechen wir hier?

Die Gastronomie sucht viele Fachkräfte, denn viele Angestellte haben während der Corona-Pandemie Stellen in anderen Branchen angenommen oder sind, wenn sie aus dem Ausland gekommen waren, wieder ausgereist. Der Arbeitsmarkt ist hier ziemlich ausgetrocknet. Sehr gut läuft es auch in der pharmazeutischen Industrie. Im verarbeitenden Gewerbe kam es zwar zu Lieferengpässen und Problemen mit Vorprodukten, aber das hat sich nicht sonderlich negativ ausgewirkt auf die Produktion. Von daher sind wir ziemlich zuversichtlich.

Für welche Branchen wird es in den nächsten Monaten schwieriger?

Schwierig wird es für die Uhrenindustrie. Schweizer Uhren sind etwas für Leute mit genügend finanziellen Mitteln, und wenn sich die Wirtschaft weltweit abschwächt, werden weniger davon gekauft.

«Während der Pandemie haben die Menschen weniger ausgegeben, weshalb sie jetzt mehr Geld zur Verfügung haben.»

Unsicherheit gibt es wegen des Kriegs in der Ukraine im Energiesektor. Welche Auswirkungen hätte ein EU-Importverbot für russisches Gas und Öl auf die Schweizer Wirtschaft?

Ein Importstopp würde sich natürlich negativ auswirken. Aber im Prinzip wird Öl einfach teurer werden, man kommt jedoch immer noch heran. Und hier hätten Länder, die weniger Geld zur Verfügung haben, das Nachsehen, aber nicht die Schweiz. Hinzu kommt, dass die Schweizer Wirtschaft relativ energieschonend funktioniert, sei es wegen moderner Technologien oder eines sparsamen Umgangs mit Ressourcen. Von daher sind höhere Energiepreise kein Wettbewerbsnachteil.

Als eine Stütze der Konjunktur nennen Sie den inländischen Konsum. Dabei nimmt die Inflation zu, die Löhne sind unter Druck. Geht das auf?

Wir haben immer noch einen gewissen Nachholeffekt. Während der Pandemie haben die Menschen weniger ausgegeben, weswegen sie jetzt mehr Geld zur Verfügung haben. Ja, es gibt dieses Jahr möglicherweise einen Reallohnverlust. Aber das ist kein massiver Effekt, denn die ausbezahlten Lohnsummen sind recht stabil.

Was ist mit den gestiegenen Energiepreisen?

Benzin und andere Treibstoffe sind zwar deutlich teurer geworden, und auch die Preise einiger Lebensmittel haben angezogen – aber das fällt nicht ins Gewicht. Denn vieles wird aus dem Ausland eingeführt und ist ohnehin mit Zöllen belegt, um das Preisniveau der Schweizer Produzenten zu schützen. Hier erwarten wir, dass – wenn nötig – die Zölle gesenkt werden. Unter dem Strich könnte all dies die Lebensmittelpreise etwas erhöhen, aber das fällt nicht stark ins Gewicht.

Besteht denn in Krisenzeiten nicht das Risiko, dass die Menschen weniger Geld ausgeben?

Eine gewisse Unsicherheit ist eingerechnet in unserer neuen Prognose, wir haben diese gegenüber dem Frühjahr ja nach unten angepasst. Damals gingen wir davon aus, dass der Krieg in spätestens drei Monaten vorbei sein würde, was eine falsche Annahme war.

Was ist mit dem Tourismus? Wegen der internationalen Wirtschaftslage dürfte die Schweiz als Reiseland ja kaum attraktiver werden.

Das ist zwar richtig. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass jene, die in der Schweiz Ferien machen, ohnehin nicht die Ärmsten sind. Man muss sich die Schweiz leisten können. Möglich ist aber, dass im Gastrobereich die Preise etwas erhöht werden. Denn was passiert, wenn man die benötigten Fachkräfte nicht findet? Die normale ökonomische Reaktion ist es, die Löhne zu erhöhen, was sich dann auf die Preise niederschlagen kann.

Eines der grössten Konjunkturrisiken sei die hohe Inflation, schreiben Sie in Ihrem Bericht. Jetzt fällt auf, dass die Inflation in der Schweiz markant tiefer ist als im EU-Umland: Hängt das nur mit dem Franken zusammen?

Der Franken hat natürlich einen Effekt. Durch den jüngsten Leitzins-Entscheid der Schweizerischen Nationalbank wurde er gegenüber dem Euro um zwei Prozent aufgewertet, was die Importpreise um zwei Prozent senkt. Ob dies an die Konsumenten weitergegeben wird, ist eine andere Frage, aber das hilft schon einmal. Hinzu kommt, dass unsere Haushalte einen weniger hohen Energiebedarf haben als im Ausland. Und: Die Strompreise sind in der Schweiz im Vergleich zum letzten Jahr nur unwesentlich angestiegen, ganz im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern.

Wirtschaftsminister Guy Parmelin zur Erhöhung des Leitzinses

Wirtschaftsminister Guy Parmelin zur Erhöhung des Leitzinses

Überraschung bei der Schweizerischen Nationalbank (SNB): Der Leitzins wird deutlich angehoben. Die straffere Geldpolitik soll verhindern, dass die Inflation breiter übergreift.

16.06.2022

Wieso verbrauchen Schweizer Haushalte weniger Energie?

Weil die Häuser besser isoliert sind, wird auch weniger Heizöl verbraucht. Ausserdem geht der Trend in den letzten Jahren hin zu Wärmepumpen, was die Heizkosten mit dem relativ stabilen Strompreis zusammenkoppelt. Auch macht der öffentliche Verkehr in der Schweiz einen grösseren Anteil am Gesamtverkehr aus, wir brauchen weniger das eigene Auto. Und in einem wohlhabenden Land sind allerlei Geräte normalerweise auch neuer und verbrauchen damit weniger Strom.

«Das würde bedeuten, dass die Zentralbanken nichts aus der Vergangenheit gelernt hätten.»

Die positive Konjunkturprognose beruht auf dem günstigen Szenario. Sie prognostizieren aber auch ein negatives Szenario, bei dem der Schweiz eine Rezession droht. Wie realistisch ist es, dass der negative Ausblick eintritt?

Dazu sind wir hier an der KOF nicht alle gleicher Meinung, aber ich persönlich betrachte dieses Szenario als nicht sehr wahrscheinlich. Denn das würde bedeuten, dass die Zentralbanken nichts aus der Vergangenheit gelernt hätten.

Das müssen Sie erklären.

In den Achtzigerjahren sind die Zentralbanken sehr stark eingeschritten, um die Inflation zu bremsen. Es stimmt, in den USA sind solche Tendenzen schon zu beobachten, und auch die SNB hat den Leitzins um 0,5 Prozentpunkte angehoben – aber er verbleibt immer noch bei –0,25 Prozent und damit im Minusbereich. Es bräuchte mindestens noch zwei weitere Schritte, bis der Leitzins knapp über null liegt. Auch die USA und die EU dürften, wenn sich die Inflation verschlimmert, die Leitzinse erhöhen – aber ich glaube nicht, dass sie damit so weit gehen werden, dass es die Konjunktur abwürgt. Sie werden diese Gefahr rechtzeitig erkennen. Das negative Szenario würde nur bei einer Überreaktion auf die Inflation eintreffen.