Von wegen Hitler Die Autobahn wird 100

Von Christoph Sator, dpa

21.9.2024 - 11:33

König Vittorio Emanuele III. weiht am 21. September 1924 die Autostrada dei Laghi ein.
König Vittorio Emanuele III. weiht am 21. September 1924 die Autostrada dei Laghi ein.
Gemeinfrei

Man hört es immer noch: Hitler hat die Autobahn erfunden. Falsch. In Italien ging schon lange vor der Machtergreifung der Nazis die erste Autostrada der Welt in Betrieb. Jetzt wird sie 100.

Von Christoph Sator, dpa

Es ist wie so oft auf ausländischen Autobahnen an der Mautstation. Wieder einmal fehlen die entscheidenden Zentimeter bis zum Lesegerät. Dann funktioniert die deutsche Karte nicht, warum auch immer, und schon fängt der Hintermann an zu drängeln.

Wie schön muss das hier, an den oberitalienischen Seen, vor einem Jahrhundert gewesen sein. Als Besitzer eines Autos war man fast noch unter sich. Gezahlt wurde nicht am Automaten, sondern in der Raststätte, in bar. Und an der Schranke stand ein Wärter in Uniform, der freundlich salutierte.

Karte mit dem historischen Verlauf der A8.
Karte mit dem historischen Verlauf der A8.
Commons/Gigillo83

Vor 100 Jahren, am 21. September 1924, wurde hier, zwischen der Grossstadt Mailand und dem 50 Kilometer weiter nördlich gelegenen Varese die erste echte Autobahn der Welt in Betrieb genommen. Oder vielmehr: die erste Autostrada. Denn die bis heute immer wieder gehörte Behauptung, dass Adolf Hitler die Autobahn erfunden habe, ist ausgesprochener Blödsinn. Auf Neudeutsch: Fake News, der ganz alten Art.

Von 57'000 Autos zu mehr als 40 Millionen

Tatsächlich kam die Idee von dem Unternehmer Piero Puricelli, der auch die legendäre Rennstrecke von Monza baute und später zum Grafen geadelt wurde. Der Ingenieur gründete 1921 ein Unternehmen namens Società Anonima Autostrade, eine Art italienische Autobahn GmbH.

Das Prinzip: eine gebührenpflichtige Strasse nur für den Schnellverkehr – also ohne Hindernisse wie Kreuzungen, Fuhrwerke, Kutschen, Fahrräder oder Fussgänger. Das war tatsächlich eine sehr futuristische Idee. Auf Italiens Strassen waren seinerzeit noch kaum Pkw unterwegs: 57'000. Zum Vergleich: Heute sind mehr als 40 Millionen. 

Seinerzeit hielten die meisten Leute wenig davon, mobil zu sein. Lieber blieb man in seiner gewohnten Umgebung. Wer längere Strecken zurücklegen wollte oder musste, nahm die Bahn. Auf den oft noch unasphaltierten Strassen über Land waren vor allem Pferdekarren unterwegs.

«Eine Fahrt auf Beton glatt wie Parkett»

Insofern war das erste Teilstück der späteren Autostrada dei Laghi (Autobahn der Seen), noch später die A8, ein sehr gewagtes Unternehmen. Trotzdem kam Prominenz: Die erste Fahrt unternahm in einem Fahrzeug der bis heute existierenden Marke Lancia der damalige König Vittorio Emanuele III..

Die Autostrada 1925 zwischen Varese und Como.
Die Autostrada 1925 zwischen Varese und Como.
Commons/Takenoko1922

Der Monarch durchschnitt auch das Band, sechs Soldaten standen Spalier. Die Tageszeitung «La Tribuna di Roma» vermerkte anerkennend: «Eine höchst attraktive Fahrt auf einem Beton glatt wie Parkett. Ohne tückische Rinnen oder Radfahrer oder Ähnliches, die man ins Jenseits schicken könnte...» In Deutschland wurde darüber auch berichtet: aber nicht über eine Autobahn, sondern über eine «Nur-Autostrasse». 

Anfangs gingen die Italiener von täglich 1000 Autos auf der Strecke aus. Es waren aber nur selten mehr als einige Dutzend – was auch daran gelegen haben mag, dass die Autostrada nachts geschlossen war. 1925 wurde der nächste Abschnitt eröffnet, bis nach Como an den gleichnamigen See. Heute ist das die auch von Touristen vielbefahrene A9.

Erste deutsche Autobahn zwischen Köln und Bonn im August 1932

Bei der Gelegenheit: Hitler sass zu jener Zeit in Bayern im Gefängnis, verurteilt zu fünf Jahren, wegen eines Putschversuchs im November 1923. Von Autobahnen war bei ihm erst 1933 die Rede: Nach der Machtergreifung veröffentlichte er ein Programm zum Bau vierspuriger «Strassen des Führers» quer durch Deutschland.

Plakat «Reichsautobahnen in Deutschland» von 1936
Plakat «Reichsautobahnen in Deutschland» von 1936
Gemeinfrei

Verschwiegen wurde, dass die Pläne aus den 1920er Jahren stammten. Das erste Teilstück einer «kreuzungsfreien Kraftfahr-Strasse» wurde auch schon im August 1932 freigegeben, zwischen Köln und Bonn, heute die A555. Übrigens gab es seinerzeit eine gewisse Konkurrenz zwischen den Faschisten in Berlin und Rom.

Adolf Hitler (vorne rechts) am 23. September 1933 beim ersten Spatenstich zum Bau der Reichsautobahn-Strecke von Frankfurt am Main nach Darmstadt-Mannheim.
Adolf Hitler (vorne rechts) am 23. September 1933 beim ersten Spatenstich zum Bau der Reichsautobahn-Strecke von Frankfurt am Main nach Darmstadt-Mannheim.
Deutsches Bundesarchiv

Italiens Diktator Benito Mussolini, seit 1922 an der Macht, jubelte zur Eröffnung von Mailand-Varese: «Die Autobahnen sind eine grossartige italienische Errungenschaft, und ein sehr konkretes Zeichen unseres Ingenieurgeistes – den Söhnen des alten Roms nicht unwürdig.» 

Rennstrecken auch schon früher in USA und Deutschland

Der Kulturhistoriker Conrad Kunze («Deutschland als Autobahn») sieht das heute anders. Aus seiner Sicht war Mussolini bei Geld und Propaganda Hitler deutlich unterlegen. «Worin sich beide ähnelten, war die versuchte Monumentalisierung der Strasse als grosses historisches Werk», so der Wissenschaftler aus Berlin.

Und weiter: «Nur dass die deutsche Variante wesentlich grösser, teurer, tödlicher, schneller und berühmter wurde – wie eben im Dritten Reich alles mehrere Nummern grösser ausfiel als in Italien.» Der Vollständigkeit halber: Es gibt auch Experten, die die Autobahn für noch älter halten.

Ray Harroun gewinnt am 30. Oktober 1909 auf dem Long Island Motor Parkway ein Rennen.
Ray Harroun gewinnt am 30. Oktober 1909 auf dem Long Island Motor Parkway ein Rennen.
Library of Congress

In New York gab es schon seit 1908 den Long Island Motor Parkway, der allerdings nahezu ausschliesslich als Rennstrecke genutzt wurde – ein teurer Luxus für reiche Dandys. In Berlin wurde 1921 die Avus (Automobil-Verkehrs- und Übungsstrasse) eingeweiht, auch sie vor allem für Gutbetuchte: Die Vierteljahreskarte kostete enorme 1000 Mark.

Ein Rennen auf der AVUS in Berlin im Jahr 1921.
Ein Rennen auf der AVUS in Berlin im Jahr 1921.
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Mit der heutigen Autobahn – eine öffentliche Strasse nur für den motorisierten Verkehr, um schnell von A nach B zu kommen – hatte beides wenig zu tun. Vor allem hatte man in Italien damals schon die Idee, ein weit verbreitetes Netz an Autobahnen aufzubauen.

Die erste Autostrada war dann auch nicht billig, aber insgesamt lagen die Preise doch deutlich niedriger: zwischen 9 und 60 Lire, je nach Grösse des Gefährts. Heute kostet die einfache Strecke für Pkw einheitlich 3,80 Euro. An diesem Samstag jedoch ist die Fahrt gratis. Zur Feier des Tages werden Autos aus 100 Jahren unterwegs sein.