Offene Fragen Sinkende Corona-Zahlen in Indien lassen Experten rätseln

dpa/uri

18.2.2021 - 15:40

Temperaurmessung am Bahnhof Bandra in Mumbai. (Archiv)
Temperaurmessung am Bahnhof Bandra in Mumbai. (Archiv)
Bild: Rafiq Maqbool/AP/dpa

In Indien sinken seit September die Corona-Infektionszahlen. Warum genau, wissen Experten nicht. Sie vermuten, dass der Wohnort und frühere Krankheiten damit zu tun haben – und warnen vor zu frühen Lockerungen.

Als das Coronavirus nach Indien kam, waren die Ängste gross. Viele fragten sich, ob das Gesundheitssystem des Landes mit der zweitgrössten Bevölkerung der Welt dem Virus standhalten würde. Monatelang stiegen die Infektionszahlen, mit einem Tageshöchstwert von bis zu 100'000 neuen Fällen. Doch seit September sinken die Zahlen, momentan melden die Behörden rund 11'000 Neuansteckungen täglich. Wie kommt es dazu? 

Die indische Regierung führt das teils auf die Maskenpflicht zurück, die in manchen Städten mit harten Strafen durchgesetzt wird. Doch Experten gehen nicht davon aus, denn der Rückgang ist einheitlich, während die Maskenpflicht in manchen Gegenden nicht mehr so streng befolgt wird. Auf die Impfungen lässt sich der Erfolg ebenfalls nicht zurückführen, da Indien erst im Januar damit begonnen hat. «Wenn wir nicht wissen, woran es liegt, dann könnten wir unwissentlich etwas tun, das die Zahlen wieder nach oben treibt», warnt Shahid Jameel, Virologe an der indischen Ashoka-Universität. 



Indien hat bislang fast elf Millionen bestätigte Corona-Fälle, mehr als 155'000 Menschen sind im Zusammenhang mit dem Virus gestorben. Wie anderswo auch, bleiben in Indien viele Infektionen unentdeckt. Es gibt offene Fragen dazu, wie das Land die Toten zählt.

Nur noch 16 Prozent der Intensivbetten belegt

Ein weiterer Hinweis auf einen Rückgang der Fallzahlen ist die Lage der Spitäler. Als sich im November mehr als neun Millionen Menschen in Indien mit dem Virus angesteckt hatten, waren fast 90 Prozent aller Intensivbetten mit Beatmungsgeräten in Neu Delhi belegt. Vergangenen Donnerstag waren es noch 16 Prozent.

Zu den möglichen Erklärungen für den Rückgang gehört, dass in manchen Gegenden die Herdenimmunität bereits erreicht ist - also der Grenzwert, an dem sich genügend Menschen mit dem Virus angesteckt haben oder geimpft wurden und deshalb immun sind. Vineeta Bal vom indischen Nationalinstitut für Immunologie ist dieser Ansicht. Doch sie und andere Experten warnen, dass trotz der teilweisen Herdenimmunität die Bevölkerung als Ganzes noch immer anfällig sei und weiterhin Vorkehrungen treffen müsse. Zumal jüngere Studien vermuten lassen, dass wer sich einmal mit dem Virus angesteckt hat, trotzdem noch eine andere Variante bekommen kann.



Bal etwa erwähnt eine Forschungsarbeit aus Brasilien. Demnach trugen im Oktober mehr als 75 Prozent der Menschen in der Amazonasstadt Manaus Antikörper in sich, bevor im Januar die Fallzahlen wieder stiegen. «Ich glaube, niemand hat die endgültige Antwort», sagt Bal. 

Langsamere Ausbreitung auf dem Land

In Indien dagegen sind die Daten nicht so drastisch. Die Gesundheitsbehörden schätzen in einer Studie, dass sich vor dem Impfstart landesweit rund 270 Millionen Menschen mit dem Coronavirus angesteckt hatten. Das ist einer von fünf Indern und liegt weit unter dem Grenzwert von mindestens 70 Prozent, der für eine Herdenimmunität sorgen könnte.

Doch die landesweite Übersichtsstudie birgt einen weiteren Hinweis, warum Indiens Fallzahlen sinken könnten. Sie zeigt, dass sich in den indischen Städten mehr Menschen angesteckt haben als in den Dörfern und das Virus sich in ländlichen Gebieten langsamer ausbreitet. «Auf dem Land ist die Bevölkerungsdichte geringer, die Menschen arbeiten mehr im Freien und die Häuser sind besser durchlüftet», sagt K. Srinath Reddy, Präsident der Stiftung Öffentliche Gesundheit in Indien. 

Wenn manche Städte sich in Richtung Herdenimmunität entwickelten, die Menschen sich dort wegen Schutzmasken und Abstand weniger ansteckten, so Reddy, dann könnten sich die sinkenden Fallzahlen auch mit der langsameren Ausbreitung des Virus auf dem Land erklären lassen. 



Aufgrund vieler Krankheiten widerstandsfähiger? 

Als weitere Möglichkeit gilt, dass viele Inder im Laufe ihres Lebens Krankheiten wie Cholera, Typhus oder Tuberkulose ausgesetzt waren und deshalb widerstandsfähiger sind gegenüber einem neuen Virus. «Wenn das Coronavirus in Hals und Nase aufgehalten wird und nicht in die Lunge gelangt, ist es weniger gefährlich», sagt Virologe Jameel. «So funktioniert auch die angeborene Immunität. Sie versucht, die virale Infektion einzugrenzen, damit sie sich nicht in der Lunge ausbreiten kann.»

Aber Virus-Mutanten stellen die Welt vor neue Herausforderungen. Forscher haben mehrere von ihnen auch in Indien nachgewiesen, darunter auch solche, mit denen Menschen, die schon einmal mit Corona infiziert waren, sich mutmasslich erneut anstecken können.

Welche Auswirkungen das auf das Pandemiegeschehen im Land hat, wird noch untersucht. So halten Experten es für möglich, dass der Anstieg der Fallzahlen im südindischen Kerala damit zu tun haben könnte. Der Staat galt zuvor als Vorbild im Umgang mit dem Virus. Inzwischen aber ist Kerala für fast die Hälfte der aktuellen Corona-Fälle verantwortlich. 

Mahnung zur Vorsicht

Während die Infektionszahlen zurückgehen und die Hintergründe noch unklar sind, fürchten Experten, dass die Menschen nun unvorsichtig werden. Grosse Teile Indiens sind zum normalen Leben zurückgekehrt. In vielen Städten wimmelt es auf den Märkten, auch die Strassen und Restaurants sind voller Menschen. «Die Zahlen sinken, deshalb denke ich, dass wir das Schlimmste von Covid überstanden haben», sagt Architekt M. B. Ravikumar, der vergangenes Jahr mit dem Virus ins Krankenhaus kam und sich inzwischen erholt hat.

Zur Vorsicht mahnt Jishnu Das, Gesundheitsökonom an der Universität Georgetown in Washington und Berater für den indischen Staat Westbengalen in der Pandemie. «Wir wissen nicht, ob das alles nach drei oder vier Monaten wieder losgeht.»

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dpa/uri