Basler Epidemiologe «Wir werden Varianten sehen, die auch Geimpfte im grossen Stil infizieren»

Von Andreas Fischer und Uz Rieger

21.8.2021

Ein Labor-Mitarbeiter bei der Sequenzierung von Coronavirus-Proben im Zentrallabor des Stadtspitals Triemli in Zürich. (Symbolbild)
Ein Labor-Mitarbeiter bei der Sequenzierung von Coronavirus-Proben im Zentrallabor des Stadtspitals Triemli in Zürich. (Symbolbild)
Bild: Keystone

Das Coronavirus wird auch künftig mutieren und neue Varianten hervorbringen. Der Epidemiologe Richard Neher rechnet damit, dass die Mutante, die uns im kommenden Winter beschäftigen wird, bereits im Umlauf ist.

Von Andreas Fischer und Uz Rieger

21.8.2021

Welchen Weg die Corona-Pandemie nehmen wird, hängt nicht nur von der Impfrate oder sonst noch zu ergreifenden Massnahmen ab. Entscheidend wird auch sein, wie das Coronavirus noch mutiert und wie das menschliche Immunsystem auf die Varianten reagiert. «blue News» hat beim Basler Epidemiologen und Taskforce-Mitglied Richard Neher nachgefragt, was vom Virus SARS-CoV-2 noch zu erwarten ist.

Herr Neher, worauf hat das Virus bisher bei Mutationen «Wert gelegt»?

Mutationen, die die Übertragung beschleunigen, setzen sich durch. Das kann geschehen, indem die Übertragung selbst schneller oder effizienter wird. Oder aber dadurch, dass die Zahl der Personen, die für das Virus empfänglich sind, vergrössert wird. Das nennt man dann Immunevasion. Zu Beginn der Pandemie spielte Immunevasion keine grosse Rolle. Die «erfolgreichen» Varianten Alpha und Delta zeichnen sich auch in erster Linie durch schnellere Übertragung aus. So hat das Virus zum Beispiel die Prozessierung des Spike-Proteins durch menschliche Enzyme weiter optimiert.

Zur Person
Universität Basel

Der Epidemiologe Richard Neher ist Professor am Biozentrum der Universität Basel und Mitglied der Covid-19 Science Taskforce des Bundes. Sein Interesse gilt der Evolution von Viren und Bakterien. 

Worauf wird sich das Virus in Zukunft spezialisieren?

Bei der Übertragungsrate ist sicherlich irgendwann das Ende der Fahnenstange erreicht. Mit einem zunehmenden Anteil der Geimpften und Genesenen verschiebt sich der Selektionsdruck und die Evolution dann auf Immunevasion.

Wie lange dauert es, bis sich eine Mutante entwickelt und dominant werden kann?

Zwischen dem Entstehungszeitpunkt einer Variante und ihrer Dominanz vergehen viele Monate. Alpha zum Beispiel ist wohl im September 2020 entstanden, dominierte Grossbritannien ab Dezember 2020 und den Rest Europas ab Februar 2021.

Unter welchen Bedingungen entstehen Mutationen am ehesten?

Die Umstände, unter denen Varianten entstehen, sind nicht wirklich verstanden. Einzelne Mutationen entstehen andauernd, wo immer das Virus zirkuliert. Die Varianten zeichnen sich aber durch komplexe Kombinationen von Mutationen aus. Eine Hypothese ist, dass solche stark mutierten Varianten in lang andauernden chronischen Infektionen entstehen – zum Beispiel in immunsupprimierten Patienten. (Anm.d.Red.: Das sind Patienten, bei denen das körpereigene Abwehrsystem durch eine Krankheit oder gezielt durch Medikamente – etwa nach einer Organspende – unterdrückt ist.) 

Erhöht der Impffortschritt den Druck auf das Virus, immunevasive Mutationen zu entwickeln?

Im Prinzip schon. Aber Studien deuten darauf hin, dass die Antikörper, die durch die Impfung hervorgerufen werden, sehr potent sind und das Spike-Protein besser abdecken als solche, die in Genesenen zu finden sind. Es ist für das Virus schwieriger, solche breiten Immunantworten zu umgehen und ich glaube daher, dass der Druck zur Immunevasion (Anm.d.Red.: Immunevasiv bedeutet, dass geimpfte oder genesene Personen nicht vor dieser Variante geschützt sind) durch die Impfung nicht grösser ist als durch Genesene.

Was ist für das Entstehen einer gefährlichen Mutation entscheidender: Dass das Virus frei zirkulieren kann oder dass es durch Immunität unter Druck gerät? 

Immunität ist über kurz oder lang nicht zu vermeiden und somit auch der Selektionsdruck. Wie genau gefährliche Varianten entstehen, muss sicher weiter untersucht werden, und ein Teil dieser Untersuchungen sollten chronische Infektionen in Menschen mit geschwächtem Immunsystem sein.

Was will so ein Virus überhaupt erreichen?

Das Virus ist nicht viel mehr als ein RNA-Molekül in einer Hülle und will erst mal nichts. Varianten, die sich schneller ausbreiten, setzen sich durch.

Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine Escape-Variante entwickelt?

Escape-Variante ist nicht gleich Escape-Variante. Wir werden in den nächsten Jahren vermutlich Varianten sehen, die auch in Geimpften im grossen Stil zu Infektionen führen. Aber das Immunsystem – und hier vor allem die T-Zellen – wird nach wie vor Teile des Virus erkennen, was in der Regel zu milderen Verläufen führt. Mit anderen Worten: Selbst wenn Infektionen nicht mehr verhindert werden können, so weiss das Immunsystem trotzdem noch, wie es mit einer Infektion umzugehen hat. Varianten, für die Letzteres nicht mehr gilt, erwarte ich in den nächsten Jahren nicht.

Wie lange kann ein Virus mutieren, bis es erschöpft ist?

Immunescape kann immer weitergehen. Wir kennen das zum Beispiel von der Grippe. Hier sind die kollektive menschliche Immunantwort und das Virus in einem kontinuierlichen Wettrennen wie in einem Hamsterrad.

Man hört immer nur vom Spike-Protein: Welche anderen Bausteine des Virus werden bei Mutationen verändert?

Das Spike-Protein ist für Infektion, Übertragung und Immunerkennung der entscheidende Faktor. Aber in der Tat verändern sich auch andere Teile des Virus, insbesondere das N-Protein (Nucleocapsid). Die Effekte dieser Mutationen scheinen aber nicht so gravierend zu sein. In vielen Fällen wissen wir aber nicht so viel über diese Mutationen, da sie viel schwerer im Labor zu untersuchen sind.

Viren verändern sich ständig, auch die Delta-Variante: Ab wann gilt die Definition, dass es sich um eine neue Variante handelt?

Gute Frage. Es gibt keine allgemeingültige Definition. Typischerweise haben Varianten, die von der WHO benannt werden, mehr als vier Spike-Mutationen und sich zumindest in einem Teil der Welt ausgebreitet. Weitere Kriterien sind Übertragbarkeit, eventuelle veränderte klinische Verläufe oder Immunevasion.

Welche genauen Eigenschaften können kommende besorgniserregende Varianten aufweisen?

Die Übertragbarkeit wird zum Beispiel durch Optimierung der Bindung an menschliche Zellen oder durch bessere Spike-Protein-Prozessierung gesteigert. Bei der Immunevasion handelt sich meist um Mutationen in der Rezeptor-Binde-Stelle oder einer Domäne am N-Terminus des Spike-Proteins. Diese Mutationen führen dazu, dass Antikörper nicht mehr binden.

Der Virologe Andreas Bergthaler geht davon aus, dass die Varianten, die uns ab Herbst beschäftigen werden, bereits existieren: Wo verstecken sie sich derzeit? 

Ich stimme dem Kollegen hier zu. Im kommenden Winter wird uns entweder Delta weiterbeschäftigen, oder eine Variante, die jetzt schon existiert, aber eventuell noch nicht entdeckt wurde. Vielleicht ist es auch eine Variante, die Delta entspringt. Aber Spekulationen zu zukünftigen Varianten sind nicht belastbar. Wir müssen weltweit die Virus-Varianten genau beobachten, um neue Varianten so früh wie möglich zu entdecken.