Als Gastgeber der EM 2024 ist Deutschland schon automatisch qualifiziert für das Turnier. Doch im DFB-Lager herrscht nach den schlechten Resultaten Katerstimmung. Nun muss eine Trendwende her.
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
- Die deutsche Nationalmannschaft ist in den kommenden beiden Länderspielen gegen Japan (Samstag) und Frankreich (Dienstag) in der Bringschuld.
- Bis zur Heim-EM 2024 bleibt Deutschland noch knapp ein Jahr Zeit, um wieder in die Erfolgsspur zurückzufinden.
- Unter Druck steckt auch DFB-Coach Hansi Flick, der zuletzt mit vielen Experimenten seine Mannschaft mehr verunsicherte statt stabilisierte.
Die deutsche Nationalmannschaft spielt am Samstag (20.45 Uhr) in Wolfsburg gegen Japan, ehe man am Dienstag in Dortmund auf Vize-Weltmeister Frankreich trifft. Die Länderspiele als simple Vorbereitungsspiele abzutun, würde der Bedeutung nicht gerecht werden, wie auch Leroy Sané festhält: «Wir wissen alle, dass wir uns jetzt finden müssen. Es steht deutlich mehr auf dem Spiel als nur zwei Testspiele», so der Profi des FC Bayern München im «Kicker».
«Je länger wir negative Ergebnisse und Leistungen liefern, desto schwieriger wird es, Euphorie für die Heim-EM zu entfachen. Wir brauchen aber unbedingt Erfolgserlebnisse für die EM», sagte Sané und betonte: «Es darf uns nicht passieren, dass wir kurz vor der EM eine ähnliche Stimmung im Land haben wie aktuell. Wir müssen jetzt performen und damit eine Grundlage schaffen für eine erfolgreiche EM 2024.»
Hansi Flick steht als Trainer zuvorderst in der Verantwortung. In den vergangenen 16 Partien gab es nur noch vier Siege, aber fünf Niederlagen. In diesem Jahr gab es nach dem Auftakterfolg gegen Peru (2:0) vier sieglose Partien gegen Belgien (2:3), Ukraine (3:3), Polen (0:1) und Kolumbien (0:2). Diese Probleme müssen der 58-Jährige und sein Team dringend lösen.
Endlich ein Zweikampf im Tor
Seit über einem Jahrzehnt wartet Marc-André darauf, bei einem grossen Turnier im DFB-Tor zu stehen. Immer stand ihm Manuel Neuer im Weg. Zum Start in die EM-Saison sieht er eine «geänderte Situation».
«Ja, ich bin die Nummer 1 im Moment. Ich habe lange auf diesen Moment gewartet und glaube, dass ich den Moment nutzen kann», sagte der Barcelona-Star.
Während sich Manuel Neuer in München zehn Monate nach seinem schweren Beinbruch dem ersehnten Comeback im Bayern-Tor nähert, will Konkurrent ter Stegen seinen DFB-Status mit starken Auftritten festigen. «Ich werde alles dafür tun, dass ich den Status behalte», kündigte ter Stegen an.
Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit wird es für Neuer also keine Selbstverständlichkeit sein, bei einer Rückkehr zwischen den Pfosten zu stehen. Egal welcher der beiden Goalies den Vorzug erhält, das Konfliktpotential ist gross.
Fehlende Fan-Euphorie
Die schlechten Resultate in den letzten Jahren bei Grossanlässen haben auch im Fan-Lager auf die Stimmungsbremse gedrückt. Nun beklagte sich Arsenal-Legionär Kai Havertz gar öffentlich über die fehlende Unterstützung.
Die deutsche Nationalmannschaft sei bei der WM Ende 2022 in Katar auf sich alleine gestellt gewesen, auch wenn er nicht alle einbeziehe», betonte der Offensivspieler. «Für uns Fussballer sind Fans extrem wichtig, weil das natürlich auch Kraft verleiht. Wenn man gesehen hat, was die anderen Nationen für Fans hatten und für einen Support. Das hat bei uns – meiner Meinung nach – ein bisschen gefehlt.»
Die Fans seien «der zwölfte Mann» und gäben insbesondere in schlechten Phasen die Unterstützung. «Und die haben wir nicht hundertprozentig jedes Mal gespürt», sagte Havertz. «Aber nichtsdestotrotz versuchen wir, mit guten Leistungen, die Fans wieder ins Boot zu holen und wieder für Euphorie zu sorgen. Das geht nur über Siege.»
Mangelnde Aussendarstellung
Nicht nur die negativen Ergebnisse sowie die häufig blutleeren Auftritte haben bei den deutschen Anhängern für Liebesentzug gesorgt, auch die parallel häufig missglückten Kommunikation seitens DFB passte ins Bild.
Neustes Beispiel ist die Dokumentation über das blamable WM-Aus in Katar. Ausgerechnet diesen Freitag erscheint die Amazon-Doku «All or nothing». «Kann man da keinen besseren Termin finden? Das ist typisch DFB. Der DFB muss langsam mal die Augen öffnen», findet Rekordnationalspieler Lothar Matthäus gegenüber dem «Münchner Merkur/tz».
«Dass man sich während der WM von einem Kamerateam begleiten lässt, ist grundsätzlich schon nicht ideal. Aber dass man die Doku zum aktuellen Zeitpunkt veröffentlicht, wo die Ergebnisse nicht stimmen», ärgerte sich Matthäus.
In den bislang veröffentlichten Ausschnitten sind Konflikte innerhalb der Mannschaft zu sehen. Der fehlende Teamgeist wird nochmals allen Zuschauern vor Augen geführt. Dabei versuchte Flick mit einem speziellen Motivationstrick, die Moral seiner Schützlinge zu stärken. So zeigte der 58-Jährige ein Video über den «Flug der Graugänse».
«Graugänse haben grundsätzlich nichts mit uns zu tun, aber sie haben ein System entwickelt, wo sie Unglaubliches schaffen. Sie schaffen, wenn sich alle an die Regeln halten, über 70 Prozent mehr Reichweite. Wichtig ist, dass wir als Team so agieren. Männer, dann können wir eine ganz weite Reise machen», schwärmte Flick am Vorabend vor Turnierstart. Die Botschaft ist nicht bei allen angekommen. Zum WM-Auftakt gab es eine 1:2-Pleite gegen Japan.
Angezählte Führungsspieler
Gemeinsam mit Bayern-Profi Joshua Kimmich, der die DFB-Auswahl zuletzt in Abwesenheit von Manuel Neuer angeführt hatte, soll Ilkay Gündogan vom FC Barcelona das «neue Führungsduo» bilden. Gündogan darf gegen Japan mit der Captainbinde auflaufen.
Die beiden designierten Führungsspieler stehen aber gleichzeitig für die missglückten Auftritte in den letzten Jahren. Bei WM-Triumph 2014 fehlte Gündogan verletzt. Auch Joshua Kimmich jagt seit seinem Debüt vergeblich einem Titelgewinn mit dem DFB nach.
Gündogan spielte in seinen sieben Jahren (2016 bis 2023) bei Manchester City häufig gross auf, in der Nationalmannschaft brachte der Mittelfeldspieler selten seine PS auf den Rasen. Irgendwie fand man nie die richtige Rolle für den heute 32-Jährigen im Team.
TV-Experte Didi Hamann meinte gar bei «Sky»: «Wenn du ein guter Vereinsspieler bist, heisst das nicht, dass du ein guter Nationalspieler bist.» Er sehe aktuell kein Platz für Gündogan. «Den kannst du dann 20 Minuten bringen, wenn du den Ball halten musst, da mag er eine Verwendung haben», so der ehemalige Nationalspieler und ergänzt: «Aber ich würde überhaupt darüber nachdenken, ob ich so einen Spieler dann mitnehme.» Sein Fazit: «Wir haben auf dieser Position einfach bessere Spieler. Jüngere Spieler, bessere, dynamischere Spieler.»
Kimmich fühlt sich zwar stets wohl(er) in der Landesauswahl als Gündogan, doch auch bei ihm ist nicht alles rosig. Bei Bayern entfachte sein Trainer Thomas Tuchel eine Debatte, weil er den 28-Jährigen nicht als «echten Sechser» einstuft, was dem ehrgeizigen Profi gar nicht passte.
Nun muss Kimmich, der sich selbst als Hauptfigur im Zentrum begreift, vielleicht beim DFB nach rechts hinten rücken. Zumindest berichtet die «Bild», dass er diese Position im Geheimtraining ausfüllen musste. Flick, der sich offenbar von Champions-League-Sieger Manchester City inspirieren liess, wo sich die Abwehrspieler immer wieder in das Angriffsspiel einschalten, wollte sich noch nicht in die Karten blicken lassen.
Vielsagend merkte er aber an: «Jeder Einzelne soll und muss sein Ego hinten anstellen und sich in den Dienst der Mannschaft stellen. Der Star ist die Mannschaft, nicht der Einzelne.» Eine Rückversetzung nach hinten dürfte Kimmich sicher als Abstufung empfinden. Ob Flick weiter herumexperimentiert?
Sturmprobleme
Eine offene Wunde, die schon länger nicht verheilt, ist die fehlende Treffsicherheit der Deutschen. Die Torflaute hängt vor allem mit dem Fehlen einer echten Nummer Neun zusammen. Niclas Füllkrug entspricht zwar dem geforderten Typus, musste aber verletzungsbedingt abreisen. Jamal Musiala ist zwar ein offensiver Mittelfeldspieler, könnte aber für die nötigen Tore sorgen – wenn auch er nicht verletzt wäre.
Für Füllkrug nominierte Flick Thomas Müller nach. Der bald 34-Jährige kommt so neun Monate nach seinem bislang letzten Länderspiel zu einem unverhofften Comeback, schliesslich waren zuletzt seine Leistungen bei Bayern München nicht wirklich überzeugend. Doch Flick erhofft sich vom Routinier, dass er dem Team «Energie geben» kann. Am liebsten natürlich in Form von Toren. In 121 Einsätzen schoss er 44 Treffer. Ein Stossstürmer ist er aber trotzdem nicht.
Auch Kai Havertz kommt lieber aus dem Rückraum. 75 Millionen Euro zahlte Arsenal an Chelsea für den 24-Jährigen. Die Bilanz: In seinen ersten vier Spielen für die Londoner gelang ihm noch gar kein Treffer. «Ich bin da so was von entspannt», betont Havertz. «Ich weiss, dass es solche Phasen gibt.» Auf der Insel prasselt trotzdem schon viel Kritik auf ihn ein. Für das Selbstvertrauen nicht gerade förderlich.
Serge Gnabry kommt am liebsten über die Aussenbahn, der 28-Jährige ist definitiv kein klassischer Abnehmer von Flanken. Kevin Schade ist ebenfalls ein klassischer Flügelspieler, mit bisher 26 Einsatzminuten kann dem Brentford-Profi aber nicht zu viel Last aufgebürdet werden.
Timo Werner war von Flick lange gestützt und gefördert worden. Der Leipzig-Stürmer sucht aber seit Wochen im Verein nach seiner Form. Die Nichtberufung kann der 27-Jährige als Denkzettel verstehen. Dortmunds Jungstars Youssoufa Moukoko (18) und Karim Adeyemi (21) wurden ebenso nicht nominiert.
Mit Material von DPA