Kommentar Mehr Demut, bitte! Das Problem der gelösten Probleme

ein Kommentar von: Patrick Lämmle

4.7.2018

Steven Zuber: Niedergeschlagen wie die ganze Fussball-Schweiz nach dem WM-Aus gegen Schweden.
Steven Zuber: Niedergeschlagen wie die ganze Fussball-Schweiz nach dem WM-Aus gegen Schweden.
Bild: Getty Images

Man muss das Achtelfinal-Aus gegen Schweden nicht schönreden. Aber wenn man heute die Schlagzeilen und Kommentare liest, dann stellt sich die Frage: Leiden wir – auch ich – an Realitätsverlust? Eine Reflexion am Tag danach.

Heute bin ich über einen in der «Süddeutschen» publizierten Artikel aus dem Ressort «Psychologie» gestolpert, rein zufällig, weil ich zum ersten Mal seit die WM läuft wieder etwas anderes lesen wollte als die neusten News aus Russland. Der Titel lautete «Das Problem der gelösten Probleme». Die Lektüre half mir dabei, das (zu frühe) WM-Aus der Schweiz rational zu betrachten.

Nach der Niederlage war die Enttäuschung riesig, erneut bedeutet das Achtelfinale Endstation. Dabei glaubte man doch tatsächlich daran, dass die Schweiz an dieser WM die grosse Überraschungsmannschaft werden könnte. Die Ausgangslage schien günstig wie nie zuvor. Nun wurde aber Schweden doch zum Stolperstein. Die «bemerkenswert talentfreien Schweden», wie «20 Minuten» meint. Ganz ohne Talent haben sie also in der WM-Qualifikation Holland hinter sich gelassen und in der Barrage Italien ausgeschaltet. An der WM selbst sind sie vor Mexiko, Südkorea und Deutschland Gruppensieger geworden. Warum können es diese «talentfreien» Kicker mit jedem Gegner dieser Welt aufnehmen?

Es ist immer eine Frage der Perspektive

Sicher nicht, weil sie eine zwei Jahre andauernde Glückssträhne hinter sich haben. Die Schweden bringen die wichtigsten Eigenschaften mit, die es im Fussball braucht um als Team Erfolg zu haben: Der unbändige Wille ein Spiel zu gewinnen, solidarisch für einander zu kämpfen, stets im Wissen, dass man dem Gegner spielerisch unterlegen ist. In diesem Team hatte es denn auch keinen Platz mehr für Superstar Zlatan Ibrahimovic.

Wenn Behrami 90 Minuten lang Neymar mit destruktivem Fussball aus dem Spiel nimmt, dann überschütten wir unseren «Krieger» mit Lob – zu Recht, wie ich meine. Wenn elf Schweden zu Behramis mutieren und die Schweizer «arbeitsunfähig» machen, dann finden wir das hässlich zum Zuschauen und wir sprechen von kollektivem Schweizer versagen. Niemandem hierzulande würde es in den Sinn kommen, die Schweden dafür zu loben, wie sie Xhaka und Shaqiri neutralisierten, wie gut sie organisiert waren und wie generös sie gekämpft haben. Es ist eben immer eine Frage der Perspektive.

«Das Problem der gelösten Probleme»

Und nun kommen wir zur Gesamteinordnung dieser Niederlage. Die «Aargauer Zeitung», und sie spiegelt damit wohl die vorherrschende Meinung im Land, schreibt: «Die Geschichte des Versagens ist um ein Kapitel reicher.» Denn wie schon an der WM 2014 und an der EM 2016 war nach dem Achtelfinal Schluss. Doch die 0:1-Niederlage nach Verlängerung gegen Argentinien vor vier Jahren, die kann man unmöglich als Versagen betrachten. Viel mehr schnupperte die Schweiz damals an der ganz grossen Sensation. Und an der EM vor zwei Jahren, da fiel die Entscheidung erst im Elfmeterschiessen, gegen ein Team, das sich in den letzten Jahren auf Augenhöhe mit der Schweiz bewegt. Da versagten also höchstens die Nerven.

Im eingangs erwähnten Artikel heisst es etwa: «Wenn sich Dinge zum Besseren wenden, verändern Menschen ihre Massstäbe und klagen erst recht. So lässt sich auch das Gefühl verstehen, dass gerade alles rapide bergab geht. Diese Eigenart der Wahrnehmung sorgt für den Eindruck, die Menschheit sei ausserstande, Probleme zu lösen, und als entwickle sich alles zum Schlechteren.» Ergebnisse verschiedener Studien würden zeigen, dass wir immer kritischer auf den Zustand der Welt blicken würden, je stärker sich dieser zum Positiven entwickle. Als Beispiele werden etwa Themen wie Frauenrechte und Gleichberechtigung genannt (hier gehts zum Artikel).

Doch was zum Henker soll das nun mit der Schweizer Nati zu tun haben?

Es gibt erstaunliche Parallelen. Denn liest man die Schlagzeilen und Kommentare im Netz, so könnte man meinen, unsere Nati wäre am Tiefpunkt angelangt. Dabei war die Mannschaft noch nie besser. Sicher nicht im Spiel gegen Schweden, aber im grossen Ganzen betrachtet schon.

Die Schweizer Natispieler haben sich in den letzten Jahren dermassen gut entwickelt und eine beeindruckende Konstanz an den Tag gelegt, dass wir inzwischen am Boden zerstört sind, wenn an einem grossen Turnier nach dem Achtelfinal die Koffer gepackt werden müssen. Dabei muss man das Rad der Zeit nicht all zu weit zurückdrehen, da hätten wir noch von einem Achtelfinal-Aus geträumt, da wir uns gar nicht erst für die Endrunden qualifiziert haben und stattdessen zum Beispiel mit Italien mitgefiebert haben. Doch nun muss natürlich alles hinterfragt werden, der Coach, die Kaderzusammensetzung, einfach alles. Wie konnte es bloss so weit kommen, dass wir das Viertelfinale nicht erreichen?

Wurden die Spieler vor vier Jahren noch herzlich am Flughafen empfangen, so wird nach dieser WM kaum ein Fan dort auf sie warten. Unsere Erwartungshaltung ist ins Unermessliche gestiegen. Ein Aus im Achtelfinal wird mit Versagen gleichgesetzt. Natürlich hat das auch damit zu tun, dass die Spieler selber immer wieder Dinge sagen, wie: «Wenn nicht jetzt, wann dann?» Aber das ist grundsätzlich auch die richtige Einstellung. Denn nur wer sich hohe, aber realistische Ziele setzt, kann diese auch erreichen. Das bedeutet aber nicht, dass man diese immer erreicht. Wäre das so, so würde man sich zu tiefe Ziele setzen.

Natürlich darf man kritisch über die Leistung gegen Schweden diskutieren. Das war ein schlechtes Spiel der Schweizer. Aber das grosse Ganze muss man deswegen nicht in Frage stellen. Was die Schweizer Nati in den letzten Jahren geboten hat, davon können andere Länder nur träumen. Und wir tun deshalb als Fans gut daran, etwas mehr Demut zu zeigen. Unsere Mannschaft ist nicht mit Stars gespickt und doch war sie bei den letzten Turnieren immer dabei und sie hat immer die Gruppenphase überstanden. Das ist aller Ehren wert.

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