Ein Remis gegen Spanien hätte Deutschland gereicht, um sich den Gruppensieg zu sichern. Doch davon war die DFB-Elf im 189. Länderspiel unter Jogi Löws Leitung unendlich weit entfernt. Nach der höchsten Pleite seit 1931 herrscht Ernüchterung.
Bundestrainer Jogi Löw sass fassungslos auf der Bank, DFB-Direktor Oliver Bierhoff schlug auf der Tribüne die Hände vors Gesicht: Angstgegner Spanien hat einer führungslosen deutschen Nationalmannschaft zum Abschluss des komplizierten Corona-Jahres 2020 die höchste Niederlage in der Amtszeit des Langzeit-Bundestrainers verpasst.
Das 0:6 (0:3) im 189. Länderspiel unter Löws Leitung war auch in der Höhe absolut verdient. Neben der im direkten Duell um Platz eins verpassten Qualifikation für das Finalturnier der Nations League war die Fussball-Lehrstunde auch ein heftiger Stimmungsdämpfer mit Blick auf das kommende EM-Jahr. «Wir sind heute klar zurückgeworfen worden», sagte Löw in der ARD. Er rang um Worte und Fassung. «Es war ein rabenschwarzer Tag. Es hat nichts funktioniert. In jeglicher Beziehung war es schlecht.» Der 60-Jährige vermisste «Körpersprache, Körperspannung, Zweikampfverhalten». Man müsse nun «die richtigen Schlüsse ziehen». Aufgeregte Debatten erwarten den Bundestrainer.
«Die bitterste Niederlage war es nicht, aber eine der klarsten», sagte Toni Kroos nach seinem 101. Länderspiel. Sie habe «weh» getan: «Wir haben überhaupt keinen Zugriff bekommen. Spanien hat uns alles vorgemacht, mit Ball und ohne Ball. Das Spiel muss man Richtung Turnier natürlich analysieren. Es ist einiges zu tun.»
Alvaro Morata (17. Minute), der dreimal erfolgreiche Ferran Torres (30./55./72.), Rodri (38.) und Mikel Oyarzabal (89.) trafen fast nach Belieben in dem aus deutscher Sicht gespenstischen Geisterspiel.
Neuer: «Das ist ganz enttäuschend für uns alle»
Es war die höchste Niederlage seit 1931. Kapitän Manuel Neuer erlebte in seinem 96. Länderspiel, mit dem er zum alleinigen deutschen Rekordtorwart aufstieg, einen ganz bitteren Abend. Zuvor hatte er nie mehr als vier Treffer im DFB-Tor kassiert. «Das ist ganz enttäuschend für uns alle», sagte Neuer. Er bemängelte die Körpersprache und die Kommunikation auf dem Spielfeld: «Auch ein Tiefschlag kann helfen.»
Der 34-Jährige verhinderte sogar eine noch schlimmere Demütigung gegen eine gierige und spielerisch klar überlegene spanische Elf. Die Gastgeber zogen in der Tabelle der Gruppe 4 mit elf Punkten an Deutschland (9) noch vorbei. Spanien steht damit neben Weltmeister Frankreich als Teilnehmer am Final-4-Turnier im Oktober 2021 fest.
«Die grosse Herausforderung heisst gegen Spanien, wie verteidigt man sie?», sagte Löw vor dem Anpfiff in der ARD. Das war im Nachhinein eine fast prophetische Aussage. Die Defensivarbeit war über 90 Minuten desolat. Dabei schien es eine gute Nachricht zu sein, dass Niklas Süle nach Knieproblemen doch auflaufen konnte. Aber der Abwehrchef war überfordert wie alle andere. Eine Lehrstunde erlebten auch die unerfahrenen Verteidiger Robin Koch und Philipp Max.
Schweinsteiger schon nach dem 4:0 «sprachlos»
Ernüchternd war, dass von Führungskräften wie Toni Kroos und Ilkay Gündogan im Mittelfeld überhaupt kein Widerstand oder Ideen kamen. Der hochgelobte deutsche Turbo-Angriff mit Timo Werner, Serge Gnabry und Leroy Sané konnte sich bei der ersten Niederlage des Jahres nie in Szene setzen. Erst in der 77. Minute gab es eine Torchance, als Gnabry aus der Distanz abzog und die Latte traf.
«Wir können froh sein, dass es 4:0 steht. Ich bin sprachlos», sagte ARD-Experte Bastian Schweinsteiger als fassungsloser Beobachter der einseitigen Partie, die einen Klassenunterschied offenbarte. Nichts ging bei Löws Team, dass ohne einen Mentalitätsspieler wie den am Knie verletzten Joshua Kimmich von Anfang an wehrlos war. In der 5. Minute hatten die Gäste noch Glück, dass es in der Nations League keinen Videobeweis gibt. Gündogan traf den Leipziger Dani Olmo am Fuss, der Schiedsrichter gab Freistoss, aber das Foul war im Strafraum.
Die Spanier verloren früh Sergio Canales durch eine Verletzung. Aber der für ihn eingewechselte Fabian bereitete als Eckballschütze gleich das Führungstor von Morata vor. Der gross gewachsene Stürmer von Juventus Turin übersprang am langen Pfosten Gnabry, der dort niemals sein Gegenspieler hätte sein dürfen. Die Spanier konnten ungestört angreifen und spielten sich in einen Rausch. Nach einer Flanke von Koke köpfte Olmo an die Latte, Ferran Torres vollendete. Eine weitere Ecke von Fabian konnte Rodri ungehindert zum 0:3-Pausenstand einköpfen.
«Das Spiel war entsetzlich, ein Nackenschlag»
Auch nach der Pause erfolgte kein Aufbäumen. Und nicht einmal eine Schadensbegrenzung gelang. Der herausragende Ferran Tores von Manchester City konnte bei seinem zweiten Treffer einen Konter über José Gaya mühelos abschliessen. Dann machte er gegen eine deutsche Elf in Auflösung seinen Dreierpack perfekt. Die von DFB-Direktor Oliver Bierhoff beschriebene «dunkle Wolke», die sich nach den Siegen gegen Tschechien (1:0) und die Ukraine (3:1) zu verziehen schien, schwebt zum Jahresende wieder über der Nationalmannschaft und auch Löw. Sie schleppt der Bundestrainer mit in die viermonatige Winterpause.
Schweinsteiger findet nach dem Schlusspfiff klare Worte: «Das Spiel war entsetzlich, ein Nackenschlag. Man kann gegen Spanien verlieren, aber nicht so. Was am meisten gefehlt hat, ist, dass man sich nicht gewehrt hat. Das hat sich nicht als Team angefühlt. Die waren uns in allen Belangen überlegen. Gut, dass es jetzt passiert ist. Vielleicht bringt es den einen oder anderen dazu, ein bisschen nachzudenken über die eine oder andere Alternative. Man muss nicht von heute auf morgen alles umwerfen, aber gewisse Fragen muss man sich stellen.»