Borussia Dortmund Favre: «Als Coach sollte man nie das Gefühl haben, alles zu wissen»

SDA

14.1.2019 - 20:04

Im Trainingslager im Süden Spaniens äussert sich Lucien Favre gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA zur zweitbesten Vorrunde der Geschichte von Borussia Dortmund. Für die Rückrunde habe sein Team noch viel zu tun.

Der Erfolgstrainer aus dem Waadtland spricht über den hohen Unterhaltungsfaktor seiner Equipe und über das Duell mit dem zweitplatzierten Titelhalter Bayern München.

Auf eine Meisterschaftsprognose lässt sich der 61-jährige Romand selbstredend nicht ein. «Ich habe die Ziele für mich persönlich notiert. Das genügt», sagt der Mann, der in 245 Bundesliga-Partien 400 Punkte gewonnen hat und an jeder seiner Wirkungsstätten eine markante Wertsteigerung erreichte.

Mit dem Ruhrpott-Koloss Borussia Dortmund steht der Schweizer Coach vor prickelnden Wochen. Top-Affichen stehen an: am Samstag in Leipzig zum Rückrunden-Auftakt, dann folgt der Cup-Achtelfinal gegen Werder Bremen, Mitte Februar das Champions-League-Highlight gegen Tottenham Hotspur und Anfang April der Gipfel in der Bundesliga mit Bayern München. Favre hofft auf «grosse Geschichten», und studiert an der Costa del Sol den vollen Kalender: «Es kommt viel auf uns zu.»


Der neue BVB steht für erstklassige Unterhaltung. Was hat Ihnen am meisten Spass gemacht?

«Dass die Mannschaft angreifen will und vorwärts orientiert ist, macht mir Spass. Wir wollen das Spiel prägen, wir wollen es dominieren, auch wenn es nicht immer möglich ist. Manchmal steht die Sicherung der Defensive im Vordergrund.»

Diego Simeone bezog in der Champions League beim 0:4 im November die höchste Niederlage seiner über siebenjährigen Erfolgsära mit Atletico Madrid. Der Verlierer schwärmte hinterher vom Dortmunder Auftritt.

«Das ist schön und gut. Vergessen Sie bitte trotzdem nicht, dass wir lange nur 1:0 führten. Der Gegner hatte Pfosten- und Lattenschüsse. Als Trainer schaue ich nicht nur auf das Ergebnis, das grosse Bild zählt ebenfalls. Aber natürlich, wir besiegten eine grosse Mannschaft, die im Europacup seit Jahren oben mitspielt.»

In der Liga hat Borussia Dortmund Spuren hinterlassen. Erstmals seit der sechsjährigen Vorherrschaft von Bayern München werden die Karten neu gemischt. Gut für Sie, erfreulich für die Liga?

«Das ist sehr gut für die Bundesliga, dass mehrere Teams oben mitspielen. Es gibt keine einfachen Partien, mit Ausnahme des Spiels gegen Nürnberg (7:0). Diese Ausgeglichenheit empfinde ich als wichtig.»

Wie interpretieren Sie die Ausgangslage?

«Bayern wird sich verstärken im Winter, ich rechne mit ihnen. Es gibt allerdings nicht nur München. Gladbach ist gefährlich, Leipzig ebenfalls, auch Hoffenheim kann wieder eingreifen. Es gibt viele ambitionierte Teams. Es kann in beide Richtungen schnell gehen.»

Einer Ihrer Schlüsselspieler ist verletzt - Manuel Akanji. Wie weh tut dieser Ausfall?

«Sein Ausfall ist ein grosser Verlust. Mit seiner ruhigen Art und Weise bewegte er extrem viel Positives. Manuel spielte eine Chefrolle.»

«Grosser Verlust»: Lucien Favre bedauert den Ausfall von Manuel Akanji.
«Grosser Verlust»: Lucien Favre bedauert den Ausfall von Manuel Akanji.
Bild: Getty

Ihr Keeper reduziert das Pensum. Vor wenigen Tagen hat sich Roman Bürki vorübergehend aus dem Nationalteam zurückgezogen - ist sein Entscheid für Sie nachvollziehbar?

«Das ist sein gutes Recht, ich kann ihn verstehen. Roman muss auch auf seinen Körper achten. Für den BVB ist seine Fokussierung auf den Klub gut.»

Ihnen genügten im Sommer wenige Wochen, um das Team markant umzubauen. Wie funktionierte diese Neuausrichtung?

«Wir mussten am Anfang am System arbeiten. Heutzutage sollte man mehrere Varianten beherrschen, um keine spielerische Blockade zu riskieren. Ich arbeite seit langer Zeit so - schon als Coach von Echallens liess ich taktisch variabel spielen.»

In Dortmund ging der Plan ohne die geringste Verzögerung auf.

«Zu Beginn war es zeitweise schwierig, bis wir die richtige Lösung gefunden haben. In solchen Fällen sind dann oft Details ausschlaggebend, das Selbstvertrauen schwillt an. Manchmal verändert eine Nuance alles. Genau deshalb sollten wir vernünftig bleiben.»

Aber nochmals: Der Umbau lief im Eiltempo ab.

«Normalerweise braucht man mindestens zwei, drei Transferperioden, um eine Mannschaft aufzubauen. Der Verein sieht das ähnlich wie ich. Und natürlich hofft man als Trainer, keine Schlüsselspieler zu verlieren. Das Gerüst steht, das Kollektiv harmoniert.»

Müssen Sie in den kommenden Wochen primär auf die Euphoriebremse treten?

«Wir sollten einfach nicht vergessen, wie oft die Spiele eng verlaufen sind. Immer wieder lagen wir zurück. In Leverkusen beispielsweise 0:2, zu Hause gegen Augsburg gelang uns spät die Wende zum 4:3. Dass wir noch viel zu tun haben, ist keine Erfindung von mir - es ist die Wahrheit.»

Wo orten Sie Luft gegen oben?

«Defensiv können wir ein paar Dinge besser lösen. Aber das ist normal, zwei von vier Verteidigern sind sehr jung. Zagadou ist 19, Hakimi 20. Unser Team wird generell von Talenten geprägt - auch Sancho ist erst 18-jährig, das darf man nie vergessen. Die Jungen können nicht 10 bis 15 Spiele hintereinander auf immer gleichem Level spielen.»

Einer überragte in seinem ersten Bundesliga-Halbjahr: Axel Witsel.

«Er spielt richtig, und er vermittelt uns Ruhe. Seine Erfahrung tut uns gut. Auch die Routine von Reus, Götze oder Piszczek ist wichtig für die Balance im Team.»

Mit Reus und Piszczek arbeiteten Sie früher bereits erfolgreich zusammen.

«Ja, ich kenne beide im Detail. Reus kann in jeder Situation für den Unterschied sorgen. Piszczek kam während meiner Zeit in Berlin (2007 bis 2009) zu Beginn am Flügel zum Einsatz, bis ich in einem Test einen Verteidiger benötigte. Wir funktionierten ihn um - es hat geklappt.» (lacht)

Lucien Favre (rechts) war bereits 2012 Trainer von Marco Reus – damals noch bei Borussia Mönchengladbach.
Lucien Favre (rechts) war bereits 2012 Trainer von Marco Reus – damals noch bei Borussia Mönchengladbach.
Bild: Keystone

Mario Götze ist seit seinem entscheidenden Treffer im WM-Final 2014 nicht mehr richtig auf Touren gekommen. Unter Ihnen blüht der frühere Wunderknabe wieder auf - bestätigen Sie diese Wahrnehmung?

«Mario gibt Gas, er läuft viel. Und klar, einer mit seinem Palmarès kann uns viel bringen, wenn er gesund bleibt. Er spürt den Fussball noch immer.»

Apropos Gas: Den Vorwärtsmodus Ihrer Equipe mögen die BVB-Anhänger. Die Zuschauer schwärmen von Dortmund wie in den besten Meistertagen. Wie nehmen Sie diese Ambiance wahr?

«Jeder Coach ist grundsätzlich daran interessiert, dass die Spieler zufrieden sind, dass sie hart und vor allem richtig trainieren, bereit sind für ein paar Extraschichten. Sie sollen Spass haben, auch nach einer unbequemen Einheit. Ehrliche Arbeit, Intensität, alles andere ist dann Zugabe.»

In München diskutierten sie immer wieder, beim BVB gab es keinerlei Nebenschauplätze.

«Wir hatten Erfolg, dann ist meistens alles gut. Eine ruhige Fortsetzung beginnt mit einer konzentrierten Vorbereitung; keiner darf sich ausruhen. Alle meiner Spieler besitzen das Potenzial, weitere Fortschritte zu machen - technisch, taktisch, physisch, mental.»

Der BVB wird auf sportlicher Ebene von einer Reihe kompetenter und meinungsstarker Macher geführt. Wie muss man sich den Austausch mit Persönlichkeiten wie Hans-Joachim Watzke, Sebastian Kehl, Matthias Sammer oder Sportchef Michael Zorc vorstellen?

«In grossen Klubs ist eine solche personelle Aufstellung normal. Ich bin nicht mit jedem dieser Ansprechpartner gleich oft in Kontakt, mit Zorc unterhalte ich mich am meisten. Für mich ist es gut und wichtig, den Austausch zu pflegen. Man sollte als Coach nie das Gefühl haben, alles zu wissen. Ich kann jeden Tag etwas Neues lernen. Es gehört zu meiner Philosophie, allen mit Respekt gegenüberzutreten und sie anzuhören.»

SDA

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