Materialabstimmung Gisins Geduldsprobe: «Es ist eine ganz andere Art zu arbeiten»

SDA

16.12.2022 - 08:00

Michelle Gisin geht bei der Abstimmung des neuen Materials den Weg der kleinen Fortschritte.
Michelle Gisin geht bei der Abstimmung des neuen Materials den Weg der kleinen Fortschritte.
Bild: Keystone

Michelle Gisin geht mit neuem Material den Weg der kleinen Fortschritte. Die Abstimmungsarbeit wird zur erwarteten Herausforderung.

Die blauen Salomon-Ski sind für Michelle Gisin noch nicht das Gelbe vom Ei. Das überrascht nicht. Die Engelbergerin durchlebt derzeit nach ihrem im Frühling vollzogenen Markenwechsel das, was praktisch alle alpinen Fahrerinnen und Fahrer mit neuem Material an den Füssen durchmachen.

Neues Material heisst testen, probieren, suchen, optimieren. Neues Material bedeutet Geduldsprobe und erfordert akribische und intensive Abstimmungsarbeit im Sinne des perfekten Zusammenspiels zwischen Ski, Bindung und Skischuh.

Gisin hätte es einfacher haben können. Sie hätte sich diesen langwierigen komplexen Prozess, diesen mühsamen Weg der kleinen (Fort-)Schritte, ersparen können. Sie hätte bei ihrem bisherigen Ausrüster Rossignol bleiben können. Mit dessen Produkten war sie erfolgreich, unter anderem wurde sie zweimal Olympiasiegerin in der Kombination. Sie hätte beim Partner bleiben können, der seit frühester Jugend ihr Ausrüster war. «Einzig als kleiner Knirps war ich mal mit Völkl-Ski gefahren.»

Ein intensiverer Austausch

Siege, Titel, Medaillen. Die Vertragsverlängerung wäre die logische Konsequenz der erfolgreichen Zusammenarbeit gewesen. Aber da war auch das Werben anderer Skifirmen, die Gisin eine Luftveränderung schmackhaft machten. «Das Interesse war von verschiedener Seite da, das von Salomon schon länger», sagt sie. Selber habe sie sich mit einem Wechsel vorerst nicht beschäftigt. Ebenso wenig hat sie ihr Lebenspartner Luca De Aliprandini, der ebenfalls von Salomon ausgerüstet wird, zu einem Wechsel gedrängt. «Entschieden habe ich.»

Gisin nennt es «extrem faszinierend, mit einem kleineren Player in der Szene zusammenzuarbeiten». Sie zählt den «viel näheren Bezug zum Material und zum gesamten Team» als Vorteil auf, sie hebt den intensiveren Austausch zwischen Athleten und Serviceleuten hervor. «Es ist eine ganz andere Art zu arbeiten.»

Überzeugt nach Tests

Der Gedanke zum Wechsel reifte im Zuge von Testfahrten, und schliesslich hatte sich Gisin festgelegt. Sie wollte weg von Bekanntem, raus aus der Komfortzone. Sie entschied sich gegen das Bewährte. Sie war bereit, sich der neuen Herausforderung zu stellen. Einer neuen Aufgabe, verbunden mit einem immensen Aufwand für eine Allrounderin wie sie.

Gisin relativiert. «Vorbereitung und Skitesten gehen Hand in Hand.» Anfang Oktober hatte sie die einzelnen Bausteine beieinander. «Jetzt muss ich sie noch perfekt zusammensetzen», sagte sie damals. «Wann das passiert, kann ich nicht sagen. Ich hoffe bald. Und wenn dem nicht so ist, wäre das auch in Ordnung. Ein bisschen Geduld braucht es schon.» Geduld braucht Gisin nach wie vor. Stand jetzt kann sie Fortschritte vermelden, das angestrebte Ziel ist aber noch ein Stück entfernt. Die Schwankungen sind noch zu gross, die einzelnen Komponenten bilden noch nicht bei allen Pistenbedingungen die gewünschte Einheit.

Michelle Gisin ging im zweiten Lauf von Sestrieredie Kraft aus.
Michelle Gisin ging im zweiten Lauf von Sestrieredie Kraft aus.
Bild: Keystone

Ein Blick in die erste Zwischenbilanz der laufenden Saison verrät in etwa den Stand der Abstimmung. «Im Speed-Bereich hat sehr vieles schon gut zusammengepasst.» Platz 8 in der zweiten Abfahrt und Rang 11 im Super-G in Lake Louise in Kanada belegen dies. «In Killington hat es mit dem Material überhaupt nicht gepasst.» Im Ort im amerikanischen Bundesstaat Vermont gab es Platz 25 im Riesenslalom und Rang 26 im Slalom. In Levi und am vergangenen Wochenende in Sestriere war es ähnlich. In Finnland schaute nach dem Ausscheiden im ersten Slalom im zweiten Rang 16 heraus, im Piemont fand sich Gisin in Riesenslalom und Slalom auf den Plätzen 24 wieder.

Die Klassierungen auf technischer Seite sind allerdings nur die halbe Wahrheit. Das Abschneiden in Levi betrachtet Gisin als selbstverschuldet. «Weil ich nach meinem Gefühl den Steilhang nicht gut gemeistert hatte, riskierte ich in den unteren Passagen zu viel. Im zweiten Slalom war ich nach dem Sturz am Vortag angeschlagen.»

Krank in Sestriere

In Sestriere war Gisin nicht nur angeschlagen, sondern völlig kraftlos, krank. Im Riesenslalom hielt sie im ersten Durchgang ordentlich mit. Sie war praktisch gleich schnell wie Lara Gut-Behrami und lag auf Platz 9. «Doch im zweiten Lauf wars, wie wenn einer den Stecker gezogen hätte.» Im Slalom stand sie schlotternd am Start, auch Medikamente zeigten nicht die erhoffte Wirkung. Erkenntnisse gewann sie jedoch auch mit geschwächtem Körper. «Im ersten Riesenslalom-Lauf war es im Vergleich zu Killington eine andere Welt. Auch im Slalom glaube ich, dass wir einiges korrigieren konnten, obwohl es von aussen nicht so wirkte.»

Es sind Erkenntnisse, die guttun. Gisin ist bereit für die nächsten Schritte. Die Tage, an denen sie mit den blauen Ski wieder rosige Zeiten erlebt, scheinen nicht mehr allzu fern.

SDA