Australian OpenStefanos Tsitsipas: Ein griechischer YouTuber auf einer Mission
aus Melbourne: Syl Battistuzzi
22.1.2019
Vor einem Jahr war Stefanos Tsitsipas noch die Nummer 161 der Welt. Nun steht der 20-jährige Grieche im Halbfinal der Australian Open. Mit seinem Charakter, Profil und Charisma ist er ein Glücksfall für das Tennis.
«Warte nicht auf die Gelegenheit, sondern kreiere sie.» So lautet das Motto von Stefanos Tsitsipas. Zumindest steht dieser Satz auf seiner Website. Dass der Grieche auch im realen Leben danach handelt, beweist der 1.93m-Hüne im Platzinterview nach seinem Viertelfinal-Sieg über Roberto Bautista Agut. «Es fühlt sich an wie ein Märchen», sagt er. Und bittet danach gleich die Zuschauer, doch seinen YouTube-Kanal zu abonnieren.
«Don't wait for opportunity, create it»
Stefanos Tsitsipas auf seiner Website
Sein Aufruf hat in der Tat gewirkt. Die Abonnentenzahl hat sich mehr als verdoppelt – im Moment hat er über 30'000 Follower. An der Pressekonferenz meinte er verschmitzt: «Ich wusste nicht, dass es eine solche Wirkung haben würde, was ich sagte. Vielleicht muss ich vorsichtiger sein, was ich in meinem nächsten Video veröffentlichen werde. Aber ich werde diese Videos weiterhin machen. Es gibt da keinen Druck, und ich werde versuchen, so zu bleiben, wie ich bin.» Es sei schön, diese Ergebnisse zu haben, aber vor allem sei es wichtig zu bleiben, wer man sei. «Und dass man nicht zu viel von sich selbst hält.»
Ein Tennis-Profi mit Ecken und Kanten
Solche Aussagen untermauern die Reife, über die Tsitsipas trotz seines jungen Alters bereits verfügt. Diese bringt er auch auf dem Platz zum Ausdruck. Wie er gegen erfahrene Tospieler wie Federer und Co. agierte, war beeindruckend anzusehen: Mentale Coolness gepaart mit einer erfrischenden Lockerheit in den entscheidenden Momenten. Einen Tag vor dem Achtelfinal gegen sein grosses Idol verschlug er im Training die Bälle noch reihenweise. Er schimpfte mit sich und war sichtlich genervt. Sein Temperament führte auch dazu, dass er sich hier auch schon für seine Fluchtiraden öffentlich entschuldigen musste.
«Ich sagte wirklich schlimme Sachen. Aber ich wollte es halt unbedingt.»
Stefanos Tsitsipas entschuldigt sich für seinen Ausraster in der 3. Runde
Doch wie bekannt, gab es im Achtelfinale eine Schweizer Tragödie statt einer griechischen. Die griechischen Götter sind offenbar hier in Australien, wo eine grosse Diaspora eine neue Heimat gefunden hat, auf seiner Seite. Tsitsipas wirkt mit seiner langen, blonden und lockigen Mähne, die von einem Stirnband gebändigt werden muss («mein Markenzeichen»), und mit seinem jugendlichem Antlitz selbst fast wie ein hellenischer Halbgott. Doch seine bisherigen Leistungen mit einer Begünstigung von oben oder gar Glück abzutun, wäre in der Tat ungerecht. «Harte Arbeit» hat mich soweit gebracht, so Tsitsipas, «das zeigt, dass der Sieg (gegen Federer, Anm. d. Red.) kein Zufall war.»
Neue Generation, neue Kommunikation
Mit drei Jahren hielt Tsitsipas zum ersten Mal einen Tennisschläger in der Hand, als seine Eltern Training in einem Sommer-Camp in der Nähe von Athen – seinem Geburtsort – gaben. Das Talent liegt in den Genen. Sein Vater Apostolos ist Tennistrainer, seine Mutter Julia spielte gar Profitennis in der Sowjetunion. Danach bekam er in der Akademie von Patrick Mouratoglou den Feinschliff. Aufmerksam wurde der aktuelle Coach von Serena Williams auf den Neuling durch ... ein YouTube-Video, wie «tennismagazin» schreibt.
Some days I wish I could go back in life. Not to change anything, but to feel a few things twice. pic.twitter.com/sm0iTvyFAh
Letztes Jahr hat er mit seinem YouTube-Kanal angefangen. «Wenn es mir nicht gut geht, mache ich diese Videos, dann geht es mir besser. Ich realisiere dann, dass es Wichtigeres im Leben als Tennis gibt, dass wir alle verborgene Talente haben, von denen wir nichts wissen. Es macht mich einfach relaxter», so Tsitsipas. Die Clips sind professionell gemacht und stilistisch – ähnlich wie seine einhändige Rückhand – auf hohem Niveau. So nimmt er seine Anhängerschaft überall rund um den Globus mit und verrät Intimes aus seiner Gedankenwelt, zu hören etwa auf seinem Podcast «A Greek Abroad».
«Don't go with the flow, be a rebel.»
Stefanos Tsitsipas
Um ein Haar hätte Tsitsipas seine Weltansichten nicht mehr an seine Fans richten können. 2015 spielte er ein Turnier in Kreta und ging danach mit einem Freund ins Meer schwimmen. Die Strömung trieb die beiden weg. Glücklicherweise erkannte sein Vater rechtzeitig die Situation, die beiden konnten nach langen Minuten auf offener See gerettet werden. Er selbst bezeichnet diese «Nahtoderfahrung» nun als hilfreich für den Tennissport, weil er keine Angst mehr auf dem Platz kenne.
So erreichte er bei den Junioren 2016 die Halbfinals in Wimbledon und bei den US Open. Ein Jahr später gab er sein Debüt auf der ATP-Tour. Er erhielt eine Wildcard für die Qualifikation bei den Swiss Indoors in Basel, dem Heimturnier seines grossen Idols, Roger Federer. Sein Aufstieg ging rasant weiter, letztes Jahr wurde er von der ATP als Spieler ausgezeichnet, der sich im Lauf der Saison am meisten verbessert habe. Kein Wunder, schliesslich bezwang Tsitsipas etwa beim Turnier in Toronto renommierte Gegner wie etwa Thiem, Zverev oder Djokovic. Im Endspiel musste er sich dann Nadal geschlagen geben, seinem jetzigen Halbfinal-Gegner in Melbourne. «Ich war nah dran, ihn zu besiegen. Ich erinnere mich, wie ich nach der Niederlage in die Garderobe kam und mir geschworen habe, es beim nächsten Mal besser zu machen.»
Diese Drohung sollte der Spanier ernst nehmen. Anfang dieses Jahres wurde Tsitsipas nach seinen Zielen gefragt, die Antwort lautete: «Ich will bei einem Grand-Slam-Turnier in einen Halbfinal kommen.» Ein paar Wochen später ist daraus Realität geworden. Und wie heisst eine Botschaft in seinem Vlog: «My greatest story begins now.»