Kommentar «Wiederholungstäter» Djokovic bettelt und bekommt die nächste Lektion – lernt er es dieses Mal?

von Syl Battistuzzi

7.9.2020

Djokovic schiesst Linienrichterin ab und wird disqualifiziert

Djokovic schiesst Linienrichterin ab und wird disqualifiziert

Novak Djokovic wird am US Open disqualifiziert – nicht wegen eines positiven Covid-19-Falls, sondern weil er im Frust nach einem Aufschlagverlust eine Linienrichterin mit einem Ball getroffen hat.

06.09.2020

Der grosse Favorit Novak Djokovic wird nach einem Eklat disqualifiziert. Dieses bittere Ende kann man nur als Schicksal bezeichnen, dessen Ausgang für die Weltnummer 1 ungewisser ist denn je. Ein Kommentar.

Novak Djokovic zog in diesem Jahr sportlich einsame Bahnen. Im 2020 hatte er im Gegensatz zu seinen Konkurrenten eine blütenweisse Weste – kein einziges Match verlor der 33-Jährige diese Saison. Doch nach 26 Siegen stellte er sich selber ein Bein. Bei den US Open trifft er in seinem Achtelfinal-Duell gegen Pablo Carreno Busta eine Linienrichterin mit dem Ball unabsichtlich am Hals – die Disqualifikation ist unausweichlich.

Der Tennis-Sport kennt bei solchen Vergehen keine Gnade. Den fehlenden Spielraum mussten vor dem Serben auch schon andere Profis erleben, regeltechnisch gibt es also an diesem Ausschluss nichts auszusetzen. 

Dies war auch Djokovic klar. Er wehrte sich trotzdem heftig (vergeblich) gegen das drohende Fiasko. «Sie muss dafür doch nicht ins Krankenhaus, und ihr wollt mich dafür rauswerfen?», flehte er die Verantwortlichen an. Djokovic schlug in der Not eine mildere Strafe vor, von der er sich hätte erholen können: «Ihr habt so viele Möglichkeiten: Punktabzug, Satzverlust ...» Doch seine Worte fanden kein Gehör.

Das unschöne Ende bei der Jagd nach dem Rekord um Grand-Slam-Trophäen – Federer führt dort mit 20 Titeln vor Nadal (19) und Djokovic (17) – hatte sich an diesem denkwürdigen Abend schon angedeutet. Schon vorher drosch «Djoker» einen Ball mit voller Wucht auf die Seite, die Aktion blieb aber folgenlos. Nicht beim zweiten Mal. 

Die Vorzeichen waren da

Im Gegensatz zu seinen beiden Rivalen zeigt sich Djokovic emotional weniger kontrolliert. Was nichts Schlechtes sein muss, schliesslich sind Gefühlsausbrüche – gerade bei einer Sportart wie Tennis, wo es mental auf und ab geht – einerseits einfach menschlich und lassen die Profis dadurch nahbarer erscheinen, andererseits scheint ihm dies öfters auf dem Platz den nötigen Antrieb zum Sieg zu geben.

Doch es ist ein schmaler Grat, dem er sich manchmal offenbar schlicht zu wenig bewusst ist, wie ein Auszug aus einer früheren Pressekonferenz zeigt. Dort fragte ihn ein Medienvertreter, ob ihn dieses Bällewegschlagen nicht eines Tages teuer zu stehen komme. Seine Antwort: «Es ist kein Problem für mich. Es ist nicht das erste Mal, das ich so etwas gemacht habe.»

Deshalb ist es hier fehl am Platz, bei einem Wiederholungstäter über grosses Pech zu diskutieren. Ein Warnschuss genügte nicht, um ihn zur Besinnung zu bringen. Der Volltreffer auf den Kehlkopf der Lininenrichterin liess ihn dann jäh aus seinen Träumen vom nächsten Major-Titel aufwecken.

Es ist ein hartes Aufwachen. Der Weltranglistenerste dominiert die Szene nun schon seit mehreren Jahren. In New York fehlten zudem seine beiden grossen Rivalen Federer und Nadal, der 18. Grand-Slam-Titel lag auf dem Silbertablett bereit für ihn. Stattdessen herrscht nun im Lager des Serben der grosse Frust. In den sozialen Netzwerken entschuldigt er sich für den Vorfall. «Diese ganze Situation lässt mich wirklich traurig und leer zurück», schrieb er in einem Instagram-Eintrag. Er wolle sein Fehlverhalten auf dem Platz und die darauf folgende Disqualifikation als «Lektion» nehmen, erklärte Djokovic.

Lernstoff hat Djokovic tatsächlich in letzte Zeit genug erhalten. Vor dem Re-Start der Tennis-Tour stand er gleich mehrere Male in der Kritik. Trotz der Coronakrise drängte er auf die Durchführung seiner Adria-Tour – das Turnier entpuppte sich als Fiasko, gleich mehrere Spieler – darunter Djokovic und seine Frau Jelena – wurden danach positiv getestet.



Dies hielt ihn nicht davon ab, sich lange gegen die Teilnahme bei den US Open auszusprechen, obwohl ihm die Verantwortlichen so gut wie möglich entgegenkamen. Der bekennende Impfgegner konnte sich trotzdem mit dem Bubble-Konzept nicht anfreunden. Die sportlichen Aussichten liessen dann seine Bedenken verschwinden. Zuletzt sorgte er dann auch noch mit der Gründung einer neuen Spielergewerkschaft für Aufsehen. Mit einem Triumph wollte Djokovic, der schon länger auf der Suche nach Anerkennung und Liebe der Tennis-Fans ist, es allen seinen Kritikern zeigen.



Auf dem Weg dorthin stoppten ihn dann aber nicht etwa pfeifende Fans oder kritische Medienvertreter, sondern nur er sich selber. Bei einem Geisterspiel eine Person zu treffen, ist auch eine Kunst. Oder Ironie. In seinem Fall wohl einfach Schicksal. 

Ob die ganze Sache ihn aus der Bahn werfen wird, ist schwierig zu prognostizieren. Der grösste Gegner des weltbesten Tennisspieler scheint nicht einer seiner Konkurrenten zu sein, sondern er selbst. Ironischerweise sprechen wir hier vom für viele mental härtesten Tennisspieler aller Zeiten.

Doch bisher hat es Djokovic noch immer geschafft, aus den Tiefschlägen Energie für den nächsten Angriff zu holen. Es wäre ihm zu wünschen, dass es ihm auch dieses Mal gelingt. Einen solchen Schlusspunkt hat Djokovic sicher nicht verdient. 

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