Gefährliches Spektakel Gammenthaler: «Dieses Jahr ist es die Tour de Wahnsinn, nicht die Tour de France»

Luca Betschart

28.6.2021

Landete gleich zum Auftakt der Tour unsanft im Gebüsch: Marc Hirschi.
Landete gleich zum Auftakt der Tour unsanft im Gebüsch: Marc Hirschi.
Bild: Keystone

Zwei Massenstürze und viele Verletzte nach der ersten Etappe – selten verlief ein Auftakt der Tour de France turbulenter. Für Rad-Experte Henri Gammenthaler sind die jüngsten Zwischenfälle aber bloss eine logische Folge.

L. Betschart

28.6.2021

Es sind unschöne Bilder, welche die Rad-Fans am Samstag zu sehen bekommen. Gleich zweimal kommt es in der ersten Etappe der prestigeträchtigen Tour im Fahrerfeld zu Massenstürzen. Zahlreiche Fahrer tragen Verletzungen davon, vier Betroffene müssen die Rundfahrt gar aufgeben, bevor sie überhaupt richtig begonnen hat.



Vor allem der erste Massensturz knapp 46 Kilometer vor dem Ziel, der von einem Fan-Plakat einer Zuschauerin ausgelöst wird, schlägt hohe Wellen. Rad-Experte Henri Gammenthaler kritisiert das Verhalten der Fans in Frankreich scharf: «Das ist eine Katastrophe, die vorhersehbar war. Wenn man die Zuschauer in Frankreich sieht, die den Fahrern den Berg hinauf nachrennen – das hat nichts mehr mit Unterstützung zu tun. Vielmehr wollen sie sich einfach im TV sehen.» Und weiter: «Ich hoffe, dass die französische Polizei diese Frau findet. Sie hatte ein riesiges Glück, aber sie muss bestraft werden. Das ist inakzeptabel. Solche Leute schaden dem Radsport.»



Eine Teilschuld sieht Gammenthaler allerdings auch bei den Tour-Organisatoren. «Dieses Jahr ist es die Tour de Wahnsinn, nicht die Tour de France. Es ist eine gefährliche Show, bei der es um sehr viel Geld geht. Aber die Sicherheit kommt zu kurz. Da muss man wirklich über die Bücher», macht der Experte im Gespräch mit «blue Sport» klar.

«Hirschi erlebt Glanz und Elend des Radsports»

Henri Gammenthaler
Bild: zVg

Henri Gammenthaler analysiert das Radsport-Geschehen für «blue Sport». Der Zürcher war einst selbst Fahrer, später TV- und Radio-Experte und Kommentator der Tour de Suisse.

Zu den grossen Pechvögeln gehört auch der Schweizer Marc Hirschi, der nach seinem überragenden letzten Jahr in dieser Saison bisher nicht auf Touren kommt. «Hirschi erlebt Glanz und Elend des Radsports. Dieses Pech, diese Stürze – das hat er nicht verdient», bedauert Gammenthaler. Hirschi erwischt es vor allem beim zweiten Massensturz kurz vor dem Ziel übel. Mit der davongetragenen Schulterverletzung hat er Glück im Unglück. «Und jetzt quält er sich mit enormen Schmerzen, aber steigt trotzdem aufs Velo. Er leidet bei jedem Pedalentritt. Das ist beeindruckend, ohne Hirschi in den Himmel loben zu wollen», macht Gammenthaler klar. 



Zwei grosse Saisonziele stehen noch bevor

Gleichzeitig warnt er vor der Gefahr, die Verletzung zu verschleiern. Insbesondere im Hinblick auf die grössten Saisonziele des Berners könne eine Fehlbelastung teuer zu stehen kommen. «Er hat noch zwei Chancen: Olympia und die Weltmeisterschaften. Und dafür muss er in Form bleiben, ohne Training und ohne Rennen kann man auch gleich zu Hause bleiben.»

Genau aus diesem Grund sei es Hirschi aber zu wünschen, dass die eingefangene Schulterverletzung ein Weiterfahren zulässt. Vor allem in den nächsten Tagen wird die Tour de France für den 23-Jährigen aber so oder so zu einer reinen Willensleistung. «Das wird ein brutaler Überlebenskampf. Es darf dich nichts aus dem Konzept bringen, nicht mal die Schmerzen. Wenn Hirschi die Tour nach diesem Sturz beendet, ist er ein Champion.»