Pioniere in Europa Bis 2025 will Estland zehn Millionen E-Einwohner haben

Swisscom

4.11.2018

Die E-Residency ist eine digitale Identität, die es Nicht-Einwohnern erlaubt, in Tallinn Geschäfte zu gründen und die Dienstleistungen estnischer Firmen in Anspruch zu nehmen.
Die E-Residency ist eine digitale Identität, die es Nicht-Einwohnern erlaubt, in Tallinn Geschäfte zu gründen und die Dienstleistungen estnischer Firmen in Anspruch zu nehmen.
iStock

Die Esten unterschreiben und wählen digital, gründen Geschäfte online in unter 15 Minuten und machen über eine neue E-Einwohnerschaft diese Dienstleistungen jetzt der ganzen Welt zugänglich. Verantwortlich für das Projekt ist Kaspar Korjus, der als Vertreter einer neuen digitalen Generation die estnische Erfolgsgeschichte verkörpert.

In Estland gibt es die digitale Identität seit bald zwanzig Jahren. Die Gleichstellung der digitalen Unterschrift mit der schriftlichen, also eine papierlose Gesellschaft, ermöglicht gemäss estnischer Regierung Einsparungen im Umfang von 2 Prozent des Bruttosozialprodukts pro Jahr. Kaspar Korjus (30) verkörpert das Potenzial dieser digitalen Identität. Seit 2014 arbeitet er am estnischen E-Residency Project, der weltweit einzigartigen Idee, noch einen Schritt weiterzugehen und das Land und seine Wirtschaft über eine digitale ID-Karte für Nichtbürger zugänglich zu machen.

Wir treffen Korjus in seinem Büro in Tallinn, Estlands Hauptstadt. Auf den ersten Blick sieht es hier eher nach Werbeagentur aus als nach Staatsprojekt: Die in eine alte Fabrik gebauten Räume sind offen und hell, an den Schreibtischen sitzen junge Leute, kaum über 30 Jahre alt. Aktenschränke, Schalter und Amtsschimmel sucht man hier vergebens. Korjus stellt dann auch gleich zu Beginn klar, dass es bei der digitalen Identität nicht bloss um eine weitere Plastikkarte geht. «Wir kommen ohne Karte aus, und das ist der Punkt, wo sich neue Möglichkeiten auftun», sagt er. Das eigentliche Potenzial entfaltet sich da, wo die greifbare Welt aufhört und die digitale beginnt.

Es geht schneller und kostet weniger

Als Estland 2002 die digitale Unterschrift einführte, war Korjus 14 Jahre alt. Damit gehört er zu der Generation von Esten, die ihr ganzes berufliches Leben in der digitalen Gesellschaft verbracht haben. «Zuerst ging es ganz einfach darum, Geld zu sparen. Dienstleistungen online zu bringen, kostete weniger. Zum Beispiel kann man heute den Eigentümer eines Autos online ändern, was 20 Euro weniger kostet, als es auf dem Amt zu machen.» Anstehen auf dem Amt, das kennt Korjus’ Generation nicht mehr. Auch der Umgang des Staats mit dem Bürger hat sich dahingehend verändert, dass die Reaktionsgeschwindigkeit enorm gestiegen ist: «Je früher man seine Steuererklärung einreicht, desto eher kann das Steueramt Rückzahlungen machen. Man bekommt sein Geld schneller. Und deswegen haben die Leute begonnen, die digitale Identität zu nutzen.» Zeitaufwand für die Steuererklärung? Ganze zehn Minuten.

Kaspar Korjus, Leiter des E-Residency Project in Tallinn
Kaspar Korjus, Leiter des E-Residency Project in Tallinn
ZVG

Die meisten Esten sehen in der digitalen Entwicklung keinen Grund zur Sorge. Gemäss Korjus liegt dies daran, dass Estland praktische Änderungen am Staat mit direkten finanziellen Vorteilen für die Bürger verknüpft hat. «Andere Staaten denken oft an viel aufwändigere Dinge wie Abstimmungen und so weiter, was die Leute dann auch einschüchtert», sagt er. Doch all das ist längst Alltag in Tallinn. Korjus gehört zu den Vorreitern einer neuen Idee, die auf die existierende digitale Gesellschaft aufbaut: das sogenannte E-Residency Project, einer E-Einwohnerschaft für das Land.

Die E-Residency ist eine digitale Identität, die es Nicht-Einwohnern erlaubt, hier Geschäfte zu gründen und die Dienstleistungen estnischer Firmen in Anspruch zu nehmen. Zum Beispiel kann ein Geschäft in Asien über die E-Residency in Estland eine Firma eröffnen und über diese einen Online-Shop im EU-Rechtsraum unterhalten. Für KMUs rund um die Welt wird eine Filiale in der EU für relativ wenig Geld möglich. Hinzu kommt, dass Estland keine Unternehmenssteuer erhebt, was die Idee noch einmal attraktiver macht. Bis 2025 will Estland, mit heute rund 1,3 Millionen Einwohner, zehn Millionen E-Einwohner haben.

Digitaler Staat bietet Transparenz und Kontrolle

Um die Sicherheit der Daten sowohl der Esten als auch der E-Einwohner sorgt Korjus sich sehr wohl, sieht entsprechende Bedenken allerdings nicht als Hindernis. «Eine Papierbürokratie birgt mehr Risiken als eine digitale. Wenn du einen Schweizer fragst, wer genau seine Daten besitzt, hat er keine Ahnung. Transparenz gibt es nicht, du hast keine andere Wahl, als jemandem blind zu vertrauen.» Estland hat die Technologie, diesen Vorgängen digital zu folgen und festzuhalten, wer wann wo und womit gearbeitet hat. Nicht einmal die Präsidentin kann auf ein System Zugriff nehmen, ohne dass ihre Identität festgehalten wird. «Diese Transparenz und Kontrolle gibt es in einem Papierstaat nicht», unterstreicht Korjus. Risiken gibt es jedoch immer. Aber: «Es ist unsere Sache sicherzustellen, dass die Gesetzgebung diese Zugriffe kontrolliert, zum Beispiel mit der Regel, dass drei Monate nach einem behördlichen Zugriff eine Person darüber informiert werden muss.» Freie Hand hat der digitale Staat nicht.

In Estland kann jeder nachsehen, wer wann Daten über seine Person aufgerufen hat.
In Estland kann jeder nachsehen, wer wann Daten über seine Person aufgerufen hat.
iStock

Was die Zukunft angeht, denkt man in Tallinn bereits weiter. Die nächste grosse Herausforderung ist die bessere Verwendung von Daten auf Staatsebene. «Den Staat online zu bringen und zu vereinfachen, ist der erste Schritt. Was danach kommt, ist die Zukunft», sagt Korjus. Zum Beispiel im Gesundheitsbereich, da könnte Open Data viel ausrichten. Oder im Verkehr, wo über die intelligente Nutzung von Daten Staus vermieden und die Umweltbelastung verringert werden können. Oder in der Verteilung von Jobs, wo die digitale Identität die Arbeit von zu Hause aus eher möglich macht, was wiederum Kosten und Verkehrsaufkommen verringert.

Staat soll Bürger nicht stören

Auf der politischen Ebene werden gewisse Entscheidungen vernünftiger, da weniger nach emotionalen Kriterien und mehr nach Statistiken und Daten entschieden werden kann. Und hier kann viel getan werden. «Zum Beispiel befragt der Staat über das Statistikamt die Unternehmen jedes Jahr zu genau den Eckdaten, die das Steueramt eigentlich schon hat. Wozu soll die Wirtschaft diese Arbeit nochmal machen?» Die Kardinalregel ist laut Korjus, dass der Staat den Bürger nicht unnötig stören soll. «Daten, die ich bereits geliefert habe, will ich nicht nachliefern müssen. Die Technologie dazu gibt es seit zehn Jahren. Der Staat hat keine Ausrede mehr dafür, diese Dinge so kompliziert abzuwickeln», findet er.

In keinem anderen Land der Welt ist die Integration der digitalen Technologie in das Alltagsleben so selbstverständlich wie in Estland, was allerdings nicht heisst, dass man sorglos mit ihr umgeht. «Mit dem digitalen Staat ist es ein bisschen wie mit dem Pass. Sehr viel Vertrauen ist hier konzentriert. Verliere ich meinen Pass, habe ich zu einer Menge Dienstleistungen keinen Zugang mehr. So gesehen bestehen beim digitalen Staat Risiken, mit denen man umgehen muss», sagt Korjus.

Bund will den Bitcoin: Wird die Schweiz zur ersten Krypto-Nation?

Estland, dass unterhalb von Finnland liegt und an Russland grenzt, früher zur Sowjetunion gehörte, ist immer wieder Cyberangriffen ausgesetzt. In einer digitalen Gesellschaft schränken diese das tägliche Leben ein. «Deswegen benötigen wir Backups und Sicherheitssysteme. Gleichzeitig bedeutet dies allerdings auch nichts weiter als Risk Management auf der nächsthöheren Ebene.»

Im Gespräch mit Kaspar Korjus wird klar: Unsicherheiten wird es in der digitalen Welt immer geben. Allerdings darf das nicht heissen, dass Neues nicht ausprobiert werden soll. In Estlands Fall hat der Mut zum Experiment einen ganzen Staat aus der postsowjetischen Misere am Rest Europas vorbei ins 21. Jahrhundert katapultiert.

Schulterschluss für die Schweiz

Auch die Schweiz will das Potenzial der digitalen Identität (E-ID) nutzen. Der Bundesrat ist an der Ausarbeitung eines entsprechenden Gesetzes. Gemäss Vorentwurf soll die E-ID einerseits im staatlichen Bereich zur Anwendung kommen. So wird sie beispielsweise ermöglichen, die Steuererklärung vollumfänglich online einzureichen oder online abzustimmen. Andererseits soll die E-ID ein Multi-Pass für den Zugang zu verschiedenen Online-Diensten sein.

Im vergangenen Frühling wurde die SwissSign Group AG gegründet. Das Unternehmen verfügt über eine breite Trägerschaft aus staatsnahen Betrieben, Finanz- und Versicherungsfirmen. Das Joint Venture wird mit der SwissID ein offenes, einfaches System zur digitalen Identifizierung anbieten, das alle datenschutzrechtlichen Vorgaben erfüllt und den Schutz von Anwenderdaten gewährleistet. Auch Swisscom ist an der SwissSign Group beteiligt und bringt als Authentifizierungslösung die Mobile ID sowie die digitale Signatur ein.

Datenschutz in Windows 10 verbessern

Zurück zur Startseite