Appell an die Streaming-Dienste Hört auf, «Binge Watching» zu begraben

Von Manuel Kellerhals

23.9.2022

Auch wenn die Inhalte immer teurer produziert, die Stars immer grösser und das Angebot immer breiter wird: Die Glanzzeiten der Streaming-Dienste sind laut unserem Autor vorbei. Das liegt vor allem am Tod des «Binge Watchings». 

Von Manuel Kellerhals

23.9.2022

Manchmal geht die Menschheit rückwärts.

Meilensteine, die wir eigentlich schon überwunden haben, liegen plötzlich wieder mitten im Weg. Wir fallen unverhofft wieder in tiefschwarze Abgründe, die wir zuvor mühsam überquert haben. Dunkle Hände schnellen hervor und ziehen uns zurück in die Schatten der Vergangenheit. 

Dieser traurige Fakt zeigt sich derzeit im Tod des «Binge Watchings». Der englische Begriff bezeichnet laut Duden das «stundenlange Anschauen mehrerer Folgen einer Serie hintereinander».

Für mich bedeutet es aber auch: Die einzige Art, wie sich eine TV-Serie wirklich lohnt. 

«Nächste Folge abspielen»

Denn sind wir ehrlich: Hat es vor Netflix und Co. wirklich jemand genossen, Woche für Woche auf die Fortsetzung seiner Lieblingsserie zu warten? Das Gefühl, sofort nach dem überraschenden Cliffhanger auf «Nächste Folge abspielen» zu drücken, ist doch weitaus erfüllender. 

Und so öffnete sich durch die Streaming-Plattformen eine neue Welt. Branchengrösse Netflix machte es vor und veröffentlichte seine Hit-Serien wie «Stranger Things» auf einen Schlag. Vorbei waren die Tage der Warterei. 

Doch jetzt schleicht sich die Vergangenheit wieder in die Wohnzimmer. 

Nicht nur, dass sich die TV-Kracher inzwischen auf gefühlt hundert Streaming-Plattformen verteilen: Sie alle veröffentlichen ihre Hits nun wieder im Häppchen-Format.

Zahlreiche Beispiele

Amazon Prime («The Lord of the Rings: Rings of Power»), HBO Max/Sky («House of the Dragon») oder Apple TV+ («See»): Sie alle hoffen, durch das monatelange Strecken ihrer Mega-Produktionen mehr Kund*innen auf ihre Plattform zu holen. Auch Netflix soll laut Insider-Berichten in Zukunft mehr auf wöchentliche Releases setzen. 

Längerfristig dürfte die gefühlte Rückkehr in das steinzeitliche Kabel-TV-System aber nicht aufgehen – jedenfalls, wenn man mich als Beispiel nimmt. 

Eine Folge pro Woche ist einfach zu wenig, damit ich mich wirklich von einer Geschichte mitreissen lassen kann. Besonders, weil ich mich die ersten zehn Minuten der neuen Stunde meistens darauf konzentrieren muss, mich wieder zurechtzufinden.

Wenn es bei Amazons «The Lord of the Rings: Rings of Power» plötzlich Namen wie Pharazôn, Eärien und Durin IV. – nicht zu verwechseln mit Durin III. – hagelt, verliere sogar ich als Tolkien-Fan Woche für Woche den Überblick. 

Besonders wenn ich mich nebenbei noch bei «House of the Dragon» mit Corlys, Mysaria und Rhaenyra  – nicht zu verwechseln mit Rhaenys – anfreunden sollte. Schliesslich schaut man ja nicht nur eine Serie – sondern muss wieder für gefühlt jeden Abend etwas anderes einplanen. 

Man könnte jetzt einwenden, dass die Pause zwischen den Folgen die Vorfreude steigert. Oder die Neugier. Oder die Aufregung. Ich habe aber keine Zeit für Vorfreude, Neugier oder Aufregung.

Ich habe Zeit, sieben Stunden am Stück fernzusehen. Also zu «bingen». Jetzt. Hier. Und das will ich mir nicht nehmen lassen.