Abnehm-Mythos«Kein Freipass fürs Essen» – Sport allein lässt keine Kilos purzeln
Von Sulamith Ehrensperger
22.10.2020
Sport ist die Formel für erfolgreiches Abnehmen. Stimmt das wirklich? Die Wahrheit ist viel komplexer. Was gegen unerwünschte Fettpolster helfen kann, verrät eine Ernährungsberaterin in diesem Gespräch.
Frau Matter, viele wollen durch Sport abnehmen und wundern sich, dass es nicht richtig klappt. Warum ist das so?
Oft wird der Kalorienverbrauch beim Sport überschätzt. Trainieren zwei Personen, kann eine es als sehr intensiv empfinden, die andere als leicht. Zwischen der Intensität von Trainings kann eine Differenz von mehreren hundert Kalorien liegen.
Viele quälen sich richtig zum Training. Vielleicht weil dahinter die Hauptmotivation steht, mit Sport abzunehmen?
Das beobachte ich auch und finde es persönlich sehr schade, weil Bewegung wie auch Ernährung doch Spass machen soll. Es muss ja auch nicht immer Sport sein, ich meine, dass Bewegung im Alltag oft unterschätzt wird. Ein sitzender Job, wo man mit dem Auto hinfährt, lässt sich mit einer Stunde Sport schwer ausgleichen. Sport ist übrigens auch kein Freipass, um beim Essen dann umso mehr zuzuschlagen.
Eine oft genannte Erfolgsformel lautet: 80 Prozent ist es die richtige Ernährung, 20 Prozent der Sport. Wie viel trägt Sport tatsächlich zum Abnehmerfolg bei?
Diese Frage lässt sich so eigentlich gar nicht beantworten. Entscheidend ist die Ausgangslage: Wer sich schon ausgewogen ernährt, aber kaum bewegt, wird mit zusätzlicher Bewegung viel mehr erreichen als mit einer Ernährungsumstellung. Wer hingegen sehr viel trainiert, beim Essen aber über die Stränge schlägt, dem wird eine Ernährungsumstellung mehr bringen als noch intensiverer Sport.
Zur Person
zVg
Céline Matter beschäftigt sich schwerpunktmässig mit Ernährung im Freizeit- und Leistungssport. Sie ist Ernährungsberaterin BSc, SVDE bei Merian Santé, dem Gesundheitsinstitut der Merian Iselin Klinik in Basel, und Mitglied der Swiss Sports Nutrition Society SSNS. Sie ist eine der wenigen eSportlerinnen in der Schweiz.
Wer abnehmen möchte, muss hungern – ein Irrtum?
Ein klarer Irrtum. Ich beobachte, dass viele Freizeitsportler sich bei der Energiezufuhr massiv einschränken und hungern, um abzunehmen. Oft fühlen sie sich bestätigt, weil es am Anfang auch ganz gut klappt. Mit der Zeit merken sie, dass der Körper nicht mehr so mitmacht. Sie kämpfen mit Schwindel, die Leistung bricht ein und die Gewichtsabnahme stagniert, weil der Körper weniger Energie bekommt, als er benötigt.
Warum klappt das nicht?
Der Körper braucht eine gewisse Menge an Energie, um funktionsfähig zu sein. Wenn wir die Energiezufuhr über eine längere Zeit radikal einschränken, stellt der Körper auf den sogenannten Hungerstoffwechsel um. Das bedeutet, dass er auf Sparflamme läuft, um möglichst wenig Energie zu verbrennen. Gleichzeitig möchte er in dieser Notsituation seine Reserven auch nicht hergeben – das heisst, dass er die Fettpolster behält.
Wie komme ich aus diesem Sparmodus wieder raus?
Um rauszukommen, ist es wichtig, dass man Stück für Stück mehr isst, damit der Stoffwechsel wieder in Schwung kommt und der Kalorienverbrauch wieder steigt. Das ist ein Prozess, der viel Geduld und Vertrauen in den eigenen Körper braucht, um wieder mehr zu essen.
Wie sieht die optimale Ernährung aus, wenn ich ein paar Kilos abnehmen möchte?
Das ist individuell. Was vielleicht ein bisschen langweilig tönt, aber beim Abnehmen helfen kann, ist eine gesunde ausgewogene Ernährung in Anlehnung an die Schweizer Lebensmittelpyramide. Wer auf genügend Flüssigkeit, ungesüsste Getränke, viel Gemüse und Früchte, genügend Kohlenhydrate und Proteine achtet, hat schon mal einen guten Grundsatz. Ich empfehle, möglichst wenig verarbeitete Produkte zu konsumieren, diese enthalten weniger Vitamine, Mineralstoffe und Nahrungsfasern, sie machen daher weniger lange satt. Wichtig ist ein regelmässiger Mahlzeitenrhythmus, um Heisshungerattacken vorzubeugen.
Wer braucht eigentlich Proteinshakes?
Am ehesten sehe ich Bedarf bei älteren Personen, weil diese oft weniger Appetit haben und der Proteinanteil ihrer Mahlzeiten eher klein ist. Es muss aber nicht immer ein Proteinshake sein. Schoggimilch, Magerquark oder Hüttenkäse sind gute Alternativen. Der ideale Ansatz in der Ernährung sollte «Food first» sein, also ein Lebensmittel, und davon gibt es genug, die uns mit Proteinen versorgen können. Für den Muskelaufbau sind zwei weitere Faktoren wichtiger als ein Shake nach dem Training: Die Bewegung muss intensiv genug sein, damit der Muskel die Reize erhält, die er braucht, um zu wachsen, und der Körper muss gesamthaft genug Energie zugeführt bekommen. Ohne diese beiden Voraussetzungen führt der Proteinshake lediglich zu einer Zunahme der Fettmasse.
Allheilmittel Low Carb: Immer mehr Menschen essen kein Brot und keine Pasta mehr. Wann ist es sinnvoll, Kohlenhydrate zu reduzieren?
Low Carb und ketogene Ernährung ist definitiv ein Riesentrend. Doch macht eine starke Reduktion oder gar das Weglassen von Kohlenhydraten keinen Sinn, da so ein Risiko für eine Energieunterversorgung besteht. Sie sind unser Hauptenergielieferant, der 50 Prozent der Energiezufuhr ausmachen sollte. Der Körper braucht Kohlenhydrate, um leistungsfähig zu bleiben. Es kann sinnvoll sein, die Kohlenhydratmenge etwas zu reduzieren, wenn man sich mal weniger bewegt.
Braucht es vor dem Training eine Zwischenmahlzeit?
Es kommt auf die Länge und Intensität des Trainings an. Wer eine halbe Stunde joggt, braucht nicht vorher etwas zu essen. Wer hingegen während anderthalb Stunden intensiv trainiert und merkt, dass er keine Energie hat, kann ein bis zwei Stunden zuvor eine kohlenhydratreiche Zwischenmahlzeit essen. Einer meiner Klienten hatte nach dem Sport jeweils massiven Heisshunger. Seit er vorher etwas Kleines isst, ist er diesen los.
Wie kann abnehmen mit Sport erfolgreich funktionieren?
Ein wichtiger Schlüssel ist Freude am Sport. Nur wer gerne trainiert, tut dies auch regelmässig. Um abzunehmen, braucht es Geduld, also lieber eine weniger intensive Sportart wählen, die aber Spass macht. Wer Sport nicht nur der Figur wegen, sondern auch der Gesundheit zuliebe und als Stressausgleich treibt, hat den längeren Atem. Und klar, nebst Bewegung darf auch die Ernährung nicht vernachlässigt werden.
Noch einen Ernährungstipp, damit das leichter klappt?
Regelmässige Mahlzeiten helfen, dem Heisshunger vorzubeugen. Ich sehe in den Beratungen oft Klienten, die tagsüber kaum etwas essen, abends dann dem Heisshunger erliegen. Was oft unterschätzt wird, ist, dass der Körper Zeit braucht. Viele setzen sich unter Druck, doch hemmt Stress den Abbau von Fettpolstern. Lieber kleinere Teilziele setzen und auch mal einen Blick über den Tellerrand wagen: Vielleicht hilft es, den allgemeinen Stresspegel zu reduzieren, das Tempo beim Essen rauszunehmen und wieder ein bisschen mehr zu geniessen.