Suche nach der inneren Mitte Wieso tue ich mir das immer wieder an?

Von Michelle de Oliveira

16.5.2022

Das Schweigen während eines Meditationsretreats empfindet die Kolumnistin als den angenehmsten Teil: Schauspielerin Julia Roberts im Film «Eat Pray Love».
Das Schweigen während eines Meditationsretreats empfindet die Kolumnistin als den angenehmsten Teil: Schauspielerin Julia Roberts im Film «Eat Pray Love».
Bild: zVg

Wenn sich die Kolumnistin in ein Meditationsretreat zurückzieht, bereut sie den Entscheid zu Beginn jedes Mal. Bis die Ruhe im Innersten einkehrt und sie weiss, warum sie es immer wieder tut.

Von Michelle de Oliveira

16.5.2022

Mein rechter Fuss ist taub, der linke kribbelt. Meine Knie und mein Rücken tun weh, der Nacken ist verkrampft und ich habe Kopfschmerzen. Ich bin unendlich müde und gleichzeitig nervös, und ich warte sehnlichst auf den erlösenden Gong, der die Meditation beenden wird.

Und denke bis dahin ständig: Verdammt noch mal, wieso tue ich mir das an?

Ich könnte zu Hause auf dem Sofa liegen, ein Buch lesen und Wein trinken. Oder ein paar Tage in einem chicen Hotel mit Dampfbad und Massagen verbringen. Warum besuche ich ein Meditationsretreat mit Mehrbettzimmer? Schon wieder?

Meditation gehört seit vielen Jahren zu meinem Alltag.

Hiebe des Lebens werden abgefedert

Stillzusitzen, meine Gedanken und Gefühle zu beobachten, ohne sie zu bewerten, nicht jedem Einfall nachzugehen und irgendwann – aber auch nicht immer – etwas ruhiger im Kopf zu werden. Manchmal sind es 5 Minuten, manchmal 45, während denen ich still sitze.

Meditation macht mich im Alltag entspannter und ich bleibe in brenzligen Situationen gelassener. Meditation verschafft mir einen Puffer. Als würde ich mit Luftpolsterfolie eingepackt und die Hiebe des Lebens würden etwas abgefedert.

Zur Autorin: Michelle de Oliveira
Bild: zVg

Michelle de Oliveira ist Journalistin, Yogalehrerin, Mutter und immer auf der Suche nach Balance – nicht nur auf der Yogamatte. Ausserdem hat sie ein Faible für alles Spirituelle und Esoterische. In ihrer Kolumne berichtet sie über ihre Erfahrungen mit dem Unfassbaren. Seit Kurzem lebt sie mit ihrer Familie in Portugal.

Meditation ist mir so wichtig, dass ich sie im Alltag stets priorisiere. Doch manchmal reicht das nicht aus. Dann ziehe ich mich in ein Meditationsretreat zurück, am liebsten ins Meditationzentrum Beatenberg im Berner Oberland.

Zwischen drei und sieben Tagen habe ich bisher dort verbracht. Der Tagesablauf war jeweils ähnlich: Erste Sitzmeditation um sechs Uhr morgens, Frühstück, wieder vierzig Minuten Sitzmeditation, vierzig Minuten Gehmeditation, Sitzmeditation, Mittagessen, Sitzmeditation, Gehmeditation, Sitzmeditation, Gehmeditation, Abendessen, Vortrag, Sitzmeditation, Licht aus.

Das Schweigen ist der angenehmste Teil

Während der gesamten Zeit wird geschwiegen. Und zwar nicht nur nicht geredet, sondern auch nonverbale Kommunikation soll unterlassen werden. Und ganz ehrlich: Das Schweigen empfinde ich als den angenehmsten Teil.

Die meisten Retreats, an denen ich teilgenommen hatte, waren von rund 60 Personen besucht worden. 60 Menschen während mehrerer Tage im selben Haus. Klingt für mich ziemlich anstrengend, um nicht zu sagen: abschreckend.

Aber ohne Reden: Kein Problem.

Kein aufgesetztes Lächeln, kein «Was-machst-du-so-im-Leben», kein «Guten-Morgen», kein «Oh, was für ein schönes/schlechtes Wetter», zwar kein Wort der Aufmunterung, aber eben auch kein unfreundliches Wort.

Im ersten Retreat musste ich mich etwas daran gewöhnen, aber mittlerweile warte ich sehnlichst darauf, dass alle Gäste angekommen und für die erste Meditation, mit der das Schweigen beginnt, versammelt sind.

Die Retreats bauen auf den verschiedenen Meditationsformen des Buddhismus auf. Ich bin nicht Buddhistin, aber habe durch die Vorträge und angeleiteten Meditationen leicht Zugang zu den Meditationstechniken gefunden. Zwischen den Geh- und Sitzmeditationen wird zudem täglich das Ämtli erledigt, das man zu Beginn des Retreats gefasst hat.

Ich habe schon in der Küche Gemüse gewaschen und gerüstet, Briefe in Couverts gesteckt und frankiert, Tische nach dem Essen abgeräumt und abgewaschen, Waschräume geputzt. Diese Arbeitsmeditation dient einerseits als Unterstützung des Meditationszentrums, andererseits als Übung, auch bei alltäglichen Tätigkeiten achtsam zu bleiben.

Die Gehmeditation triggert mich

Die ersten Tage verlaufen bei mir immer gleich: Ich bin so müde, dass ich regelmässig auf dem Meditationskissen einnicke. Und das, obwohl ich mehr schlafe als im Alltag. Und ich bin fast durchgehend wütend. Das langsame, achtsame Spazieren in der Gehmeditation triggert mich so sehr, dass ich mich zusammenreissen muss, um nicht plötzlich loszurennen.

Die Bewegungen meiner Sitznachbarin während der Meditation treiben mich in den Wahnsinn, und klappert jemand beim Essen meiner Meinung nach zu laut mit dem Besteck, beisse ich die Zähne zusammen. Wahrlich kein schönes, spirituelles Erlebnis.

Aber mittlerweile weiss ich: Tag zwei und drei sind die schwersten für mich und jedes Mal spiele ich mit dem Gedanken, einfach abzureisen. Ausserdem werde ich ein bisschen seltsam in der Anfangszeit. Es fallen mir unpassend lustige Dinge ein und dann muss ich unkontrolliert grinsen. Ich führe innerlich Selbstgespräche, die sich anhören, als diskutierte eine wütende Betrunkene mit einer Verrückten. Völlig schräg, oft totaler Nonsens, aber doch mit einem gewissen Unterhaltungswert.

Inneres Geschwafel, das mich fertig macht

In den ersten Retreats machte mich dieses innere Geschwafel fertig. «Du musst doch ruhig und entspannt sein», versuchte die Stimme der Vernunft die anderen zu übertönen. Ohne Erfolg.

Mittlerweile weiss ich: Die Stimmen drehen am Anfang so richtig auf, verausgaben sich und werden dann tatsächlich leiser. Und dann weiss ich wieder, wieso ich hier bin, wieso ich die Anstrengung, den schmerzenden Körper, die nicht enden wollenden Meditationseinheiten auf mich nehme: Weil es irgendwann einfacher wird.

Und dann ist es nicht nur einfacher, sondern richtig schön. Das Sitzen auf dem Meditationskissen gelingt mühelos, die Meditationsintervalle vergehen plötzlich so schnell, dass ich manchmal noch länger sitzen bleibe. Die Wut ist weg, ich bin friedlich, geniesse in den Pausen den Anblick auf Eiger, Mönch und Jungfrau, ohne den Drang zu verspüren, mich irgendwie ablenken zu müssen.

Und jedes Mal denke ich am Ende des Retreats: Das nächste Mal will ich länger bleiben, zehn Tage, wie es in der Vipassana-Tradition üblich ist. Ich stelle es mir magisch vor.

Und weiss gleichzeitig: Die ersten Tage werden schwer werden.

Und ich werde mich wieder fragen: Warum bloss tue ich mir das an? Schon wieder?