Auf DistanzLeben ohne Berührungen – was die Isolation mit uns macht
Thomas Strünkelnberg, dpa
30.5.2020
Wenn wir jemanden lieben, halten wir uns von ihm fern. Ohne Corona-Pandemie wäre uns das wohl nie in den Sinn gekommen. Aber wie lange können Menschen auf Nähe und Berührungen verzichten?
Letztlich sind wir auch nur Affen. Und wie kleine Äffchen beruhigen sich Säuglinge und Kleinkinder oft erst, wenn sie die Nähe der Mutter spüren. Erwachsene Menschen verstehen die Sprache der Berührung ebenso gut – die Haut ist immerhin das grösste Sinnesorgan des Menschen.
Nur: Inmitten der Coronakrise hält man sich gerade von geliebten Menschen fern, besonders in Alters- und Pflegeheimen vermissen die Menschen ihre Familie, deren Nähe und Berührungen. Was macht das mit uns allen – erst recht, wenn möglicherweise eine zweite Welle der Infektionen losbricht?
Grausame Affenexperimente
Wie wichtig Berührungen für uns Menschen sind, legen schon die grausam anmutenden Experimente des amerikanischen Psychologen Harry Harlow nahe, die dieser in den 1950er-Jahren mit kleinen Rhesusäffchen gemacht hatte. Für die Babyäffchen hatte der Forscher ein Drahtgestell mit Milchflasche gebastelt sowie eine «Stoffmutter», mit Frotteestoff umkleidet und flauschigen Polstern.
Wenig überraschendes Ergebnis: Die Äffchen klammerten sich an die «Stoffmutter», lebten sogar auf ihr – und waren gesünder als Affenbabys, die nur eine «Drahtmutter» hatten.
«Das zeigt, wir brauchen das, wir sind nicht so anders als Äffchen und Ratten», sagt Jürgen Margraf, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Ruhr-Universität im deutschen Bochum. «Wir brauchen Berührungen.»
Bedürfnis nach Berührungen bleibt ein Leben lang
Jemanden zu berühren, das ist Teil der menschlichen Kommunikation von Gefühlen. «Es gibt emotionspsychologische Experimente, die gezeigt haben, dass Menschen Gefühle wie Liebe, Dankbarkeit, Sympathie, Ärger, Angst, Ekel nur anhand der Berührung durch eine andere Person erkennen können», sagt der Entwicklungspsychologe Simon Forstmeier.
Das Bedürfnis nach tröstenden oder zärtlichen Berührungen bleibe bis ins hohe Alter bestehen. Und es gebe sogar Forschung, die zeige, dass Berührungen mit dem Alter als immer angenehmer wahrgenommen werden.
Werden wir also krank, wenn Berührungen über längere Zeit ausbleiben? Klar sei: Mittels Berührungen entwickelten Menschen Vertrauen, fühlten sich wohler, erklärt Margraf. «Aber man darf es nicht verabsolutieren.» Denn Menschen könnten in die Zukunft sehen und erkennen: es kommen auch wieder andere Zeiten. Wer dies wisse, könne die berührungslose Zeit durchstehen – für viele Monate, schätzt er. Es hänge davon ab, ob wir den Stress als kontrollierbar empfinden.
«Wenn man isoliert und weggesperrt wird, ohne den Grund zu wissen, dann würde das Folgen haben, aber wir wissen, warum, und machen das freiwillig», erklärt der Psychologe. «Dann ist es bei weitem nicht so schlimm.»
Dazu komme: Gemeinsame Herausforderungen und Extremsituationen zu bestehen, steigere das Selbstwertgefühl: «Das muss auf die andere Seite der Waagschale. Wenn wir einschneidende Erfahrungen machen, kommt es ganz stark darauf an, wie wir das weiter verarbeiten – und welche Geschichte wir erzählen.»
Berührung vermindert den Stress
Immerhin hätten Kinder und Jugendliche in der Krise auf Berührungen in der Familie nicht verzichten müssen, auch ältere Paare nicht, sagt Forstmeier. «Was leider wegfällt, sind die Berührungen zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern, die vielleicht den Einkauf vor die Tür stellen, aber die Eltern nicht in den Arm nehmen können. Und die Berührungen zwischen den Enkelkindern und ihren geliebten Grosseltern.»
Wenn Berührung eine Form sei, Zuneigung zu zeigen, bestehe das Risiko, dass dieses Bedürfnis nicht gestillt werde. Dabei habe sich gezeigt, dass Berührung das Stressniveau senke – dank des Hormons Oxytocin, das etwa bei Berührung im Gehirn ausgeschüttet werde.
Es gibt auch Alternativen
Was ist die Lösung? Man kann alle Vorsichtsmassnahmen ignorieren und sich dennoch berühren. Dabei komme es auf das individuelle Risikoprofil älterer Menschen an, erklärt Forstmeier. «Aber ich sehe noch eine zweite Lösung: Wenn Berührung als Sprache der Zuneigung wegfällt, sollten wir ganz bewusst andere Sprachen der Zuneigung anwenden. Denn die gibt es ja.»
Der amerikanische Paarberater Gary Chapman habe den Begriff der «fünf Sprachen der Liebe» geprägt. Neben Berührungen seien dies ehrliche Anerkennung und Äusserungen von Dankbarkeit, das Schenken von Zeit, kleine Geschenke und Hilfsbereitschaft. Nur müsse man wissen, für welche Sprache die Menschen empfänglich seien: «Denn darin unterscheiden wir uns.»
Margraf sieht noch ein ganz anderes Risiko der zeitweise erzwungenen Isolation beispielsweise in der Familie: Wenn Kinder und Eltern dauernd zusammen seien, reagierten sie möglicherweise gereizt. «Nach ein paar Wochen geht man sich auf den Geist», mutmasst er. Dann drohten gereizte Reaktionen – und möglicherweise mehr Gewalt.
Noch mehr zum Lesen? Diese Bücher empfiehlt die Redaktion
Auch in der «Bluewin»-Redaktion wird fleissig gelesen. In der Bildstrecke gibt Sie einen Einblick in ihre Lieblingsbücher.
Bild: Istock
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Jennifer Furer empfiehlt: «Du musst nicht von allen gemocht werden» von Ichiro Kishimi
Wir alle kämpfen mit Selbstzweifel. Dieses Buch zeigt eindrücklich, wieso jeder in der Lage ist, über sein eigenes Leben zu bestimmen. Es führt einem vor Augen, wie sehr Selbstzweifel von Erfahrungen und Erwartungen abhängen. Anhand eines Dialoges zwischen einem unglücklichen jungen Mann und einem Philosophen wird erklärt, wie man sich davon lösen kann. Der Dialog basiert auf den Erkentnissen von Alfred Adler - dem grossen Vorreiter der Achtsamkeitsbewegung.
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Eigentlich lese ich kaum Belletristik. Dieses Buch habe ich angefasst, weil es mir ein Bekannter vor bald zwei Jahrzehnten in die Hand gedrückt hat mit dem Kommentar, dass das Büchlein das frischeste sei, was er seit langem gelesen habe. Die Geschichte handelt vom Autoren Viktor, der sich mit seinem Pinguin Mischa in Viktor durchschlägt. Er verdient sein Geld mit dem Schreiben von Nachrufen bekannter Menschen. Ich habe das Buch noch am selben Abend bei Kerzenlicht – meinem Gästezimmer fehlte eine Nachttischlampe – zu lesen begonnen. Und beinahe in einem Rutsch durchgelesen
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Bruno Bötschi empfiehlt: «Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß» von Manja Präkels
Eine gute Freundin von mir, wollte dieses Buch nicht kaufen – der Titel schreckte sie zu sehr ab. Schade. In ihrem aus dem Autobiografischen schöpfenden Roman «Als ich mit Hitler Schnapskirschen ass» erzählt die ostdeutsche Schriftstellerin und Musikerin Manja Präkels (Jahrgang 1974) von der Kindheit in der DDR, von der Idylle in einer Kleinstadt, von Freundschaft und Wut. Die Geschichte beginnt harmlos – bis aus Freunden irgendwann Gegner werden: Hauptfigur Mimis Jugendfreund Oliver, mit dem sie früher heimlich Mutters Schnapskirschen ass, nennt sich plötzlich Hitler und führt eine braune Jugendgang. Immer mehr Hässliches kommt zum Vorschein. Ich mag die Sprache von Manja Präkels, sie ist direkt und schnörkellos, nichts bleibt im Verborgenen.
Markus Wanderl empfiehlt: «Der erste Sohn» von Philipp Meyer
Philipp Meyers Generationen-Epos «Der erste Sohn» ist bereits 2014 erschienen, es ist die Geschichte einer texanischen Familien-Dynastie. Fotorealistisch im Stil und minutiös recherchiert wirft Meyer einen Argusaugenblick auf die mitunter blutige Fehde zwischen Indianern, Texanern und Mexikanern. Er ist so gut, dieser Roman des 46-jährigen New Yorkers – sodass unbedingt gefragt werden muss: Wann kommt endlich Meyers dritter Roman?
Philippe Dahm empfiehlt: «Born a Crime» von Noah Trevor
Ich lese gerade «Born a Crime», die Autobiographie von Trevor Noah, dem Gastgeber der New Yorker «Daily Show». Der TV-Moderator wurde in Johannesburg als Sohn eines Schweizers und einer Südafrikanerin geboren – was damals ein Verbrechen war, weil Schwarze und Weisse keinen Verkehr und erst Recht keine Kinder miteinander haben durften...
... Noah bringt einem auf unterhaltsame Weise nahe, was es heisst, in seinem Unrechtssystem aufzuwachsen und erzählt mit einem lachenden Auge, was Armut in Soweto bedeutet, ohne dass sich der Leser dabei schlecht fühlt. Die persönlichen Anekdoten machen das Buch kurzweilig – den Tipp dazu habe ich übrigens von meinem zuverlässigen Kollegen Gil Bieler bekommen. Danke dafür, Gil, du bekommst das Buch irgendwann auch wieder zurück.
Gil Bieler empfieht: «Die Strasse» von Cormac McCarthy
Ein fesselnder Roman: Vater und Sohn schleppen sich nach der Apokalypse durch eine lebensfeindliche Welt. Getrieben von Hunger und Elend, klammern sie sich an den letzten Funken Hoffnung, dass es irgendwo, irgendwann besser wird. McCarthy legt wahrlich keine schöne Geschichte vor, aber eine, die mitten ins Herz trifft.
Carlotta Henggeler empfiehlt: «Verficktes Herz & andere Geschichten» von Nora Gantenbrink
Mit Büchern geht es mir manchmal wie mit Wein. Ich suche den Tropfen anhand der Etikette aus. Total doof, aber das Auge entscheidet oft mit. Und genauso ist es mir mit «Verficktes Herz» von Nora Gantenbrink ergangen. Ein spezieller Titel, ein popig-auffälliges Neon-Herz auf dem Cover. Bäm, schon hatte ich die EC-Karte gezückt. Und bereue es keine Minute. Die Kurzgeschichten rund ums Thema Herzschmerz sind grell, virtuos und jeder Satz hat ein eigenes Aroma, das lange nachklingt. Man sollte es peu à peu lesen, um den Genuss hinauszuzögern, genau wie ein Grand-Cru. Muster gefällig? ...
...Voilà: «Liebeskummer ist das grösste Arschloch, das es gibt. Und das Problem ist, dass es so ein unlösbares Problem ist. Dass du ja nichts dagegen tun kannst. Ausser warten. Die Lösung des Problems ist also: Das Warten muss gut sein, verdammt gut. Im Warten braucht es Yoga, braucht es Rausch, braucht es gute Geschichten und noch bessere Kurzgeschichten.»
Und zum Schluss gibt es noch einen zweiten Buchtipp von Julia Käser: «Wir sehen uns am Meer» von Dorit Rabinyans
Weil es ein mutiges Buch ist, das an israelischen Gymnasien gar verboten wurde. Und weil mich die schicksalhafte Liebesgeschichte zwischen einer israelischen Studentin und einem Künstler aus Palästina so berührte, wie es lange kein Buch mehr getan hat – ganz ohne Kitsch.
Nadia Brönimann: «Deswegen wird sie in der Trans-Community angefeindet»
Eine Netflix-Doku erzählt die Transformation-Geschichte des Zehnkampf-Olympiasiegers Bruce Jenner. Transfrau Nadia Brönimann hat sich «Untold: Caitlyn Jenner» angeschaut und erklärt, was sie von der öffentliche Inszenierung hält.
04.10.2021
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Die Armut ist hierzulande kaum sichtbar. Aber es gibt sie. Betroffene haben oft das Gefühl, von einer ansteckenden Krankheit befallen zu sein. «blue News»-Redaktor Bruno Bötschi besuchte eine Abgabestelle der Lebensmittel-Hilfe Tischlein deck dich.
13.09.2021
Hüfthoch in den Fluten – Feuerwehr: Schutz von Leib und Leben hat Prämisse
Augsburg/Pfaffenhofen an der Ilm , 02.06.2024: Es sind erschreckende Bilder aus dem Süden Deutschlands. Hüfthoch stehen Menschen in den Fluten.
In Teilen Bayerns spitzt sich die Hochwasserlage zu: In mehreren Orten sind Menschen aufgefordert worden, sich in Sicherheit zu bringen.
Ein 42 Jahre alter Feuerwehrmann ist laut Landratsamt bei einem Einsatz in Oberbayern in Pfaffenhofen an der Ilm verunglückt.
Unterdessen ist nun auch die Bundeswehr im Hochwassereinsatz. Im Landkreis Dillingen a.d. Donau unterstützten nach Angaben der dortigen Behörden rund 70 Soldaten beim Befüllen von Sandsäcken.
Und der Deutsche Wetterdienst erwartet weiteren Regen. Die Unwetter der vergangenen Tage haben mancherorts binnen 24 Stunden mehr Regen fallen lassen, als im Durchschnitt in einem Monat erwartet wird.
In Baden-Württemberg atmen unterdessen die ersten Einsatzkräfte vorsichtig auf. Ein ICE, der im Schwäbisch Gmünd wegen eines Erdrutsches in der Nacht engleiste, soll im Laufe des Mittags geborgen werden. Verletzt wurde niemand.
In Bayern ist die Lage weiter angespannt. Ein Vertreter der Feuerwehr sagt, im Landkreis Pfaffenhofen an der Ilm herrsche aktuell ein unberechenbares Hochwasser, das man so auch noch nie verzeichnen habe. Die Prämisse laute nun: Schutz von Leib und Leben.
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