Kolumne am Mittag Sein Einsatz gegen Hass bringt diesem Pianisten eine Morddrohung ein

Von Bruno Bötschi

27.5.2021

Musiker Igor Levit beherrscht die Klaviatur seines Instruments genauso wie diejenige der sozialen Medien. Das sorgt für Begeisterung, aber auch für Kritik – und sogar für eine Morddrohung.

Von Bruno Bötschi

27.5.2021

«Ich lasse mir nicht sagen: Wenn du so viel gleichzeitig machst, werden Dinge oberflächlich – nein, die sind nicht oberflächlich, die sind meine Sachen», erzählt Igor Levit im kürzlich erschienenen Buch «Hauskonzert», für das ihn Journalist Florian Zinnecker durch die Konzertsaison 2019/20 begleitet hat.

Ein Tag habe 24 Stunden, aber es sei ganz allein seine Entscheidung, so der Pianist, ob er davon 18 Stunden wach sei oder 19.

Und es sei auch allein seine Entscheidung und seine Verantwortung, wenn er wahnsinnig müde sei, auf allen Vieren liege oder krieche und vielleicht ein Konzert verhaue. «Natürlich mache ich das nicht, das hat mit Professionalität zu tun. Aber wenn doch, dann ist es trotzdem mein Leben.»

Er begeistert, er provoziert

Igor Levit sagt über sich: «Bürger, Europäer, Pianist.» Die Medien schreiben: «Einer der besten Pianisten weltweit.» 1987 wurde er im russischen Nischni Nowgorod geboren. Die Mutter ist Korrepetitorin am dortigen Opernhaus und seine erste Lehrerin.

Auf die Frage, warum er eigentlich Klavier spiele, antwortet Levit im Buch: «Weil ich kein anderes Instrument kann. Die einfachste Erklärung ist wahrscheinlich: Weil ich mit drei Jahren angefangen habe und nie wieder aufgehört habe. Zum Klavier gekrabbelt bin ich allein, ich kann mich daran nicht erinnern.»

Levit kann noch nicht laufen, da spielt er bereits Klavier. Mit sechs gibt er sein erstes Händel-Konzert. In Hannover, wo die Familie zwei Jahre später hinzieht, bekommt er Unterricht am Institut zur Frühförderung musikalisch Hochbegabter.

«Ich lasse mir nicht sagen: Wenn du so viel gleichzeitig machst, werden Dinge oberflächlich – nein, die sind nicht oberflächlich, die sind meine Sachen»: Igor Levit, Pianist.
«Ich lasse mir nicht sagen: Wenn du so viel gleichzeitig machst, werden Dinge oberflächlich – nein, die sind nicht oberflächlich, die sind meine Sachen»: Igor Levit, Pianist.
Bild: TT News Agency/AFP via Getty Images

Heute geht Levits Wirken weit über die Musik hinaus: Er erhebt auf Twitter regelmässig seine Stimme gegen Rassismus, Antisemitismus und jede Art von Hass. Er engagiert sich für den Klimaschutz. Er tritt laut und deutlich für die Demokratie ein. Er begeistert. Er polarisiert. Er provoziert.

«Die meisten anderen Pianisten, eigentlich alle anderen, verkaufen sich über ihre Harmlosigkeit», schreibt Journalist Zinnecker im Buch «Hauskonzert». «Über allem steht der Wunsch, der viel mehr ist als ein Wunsch, er ist eine Prämisse: nur nicht anecken.» Levit habe diese Furcht nicht, für ihn gebe es keine Grenzen zwischen Musik und darüber hinausgehendem Denken.

Solange er eine Stimme habe und solange er sie erheben können, so Pianist Levit, «werde ich nicht zulassen, dass Menschen unsere Gesellschaft, unsere Welt zerstören. Wir dürfen das nicht zulassen. Wir müssen tun, was wir können, um unsere Gesellschaft menschlich und intakt zu halten».

Monate der Extreme

Levit und Zinnecker erleben während der Produktion zu ihrem Buch Monate der Extreme. Nachdem der Pianist am Fernsehen öffentlich Partei gegen Hass im Netz ergreift, erhält er eine Mail, in der ihm ein Mordanschlag bei einem Konzert angedroht wird. Den Auftritt absolviert er trotzdem; es gibt Personenschutz und aufwendige Sicherheitsmassnahmen.



Levit hat Angst, aber nicht um sich. Er kämpft stattdessen weiter, etwa mit einem Gastbeitrag im Berliner «Tagesspiegel»: «Antisemitismus und Rassismus sind Fakten. Wo bleibt da die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen? Schlimmer noch: Staatliche Gewalten waren lange, viel zu lange, und trotz aller Warnungen und Katastrophen – NSU etc. – auf dem rechten Auge blind.»

Was treibt Igor Levit an? Woher nimmt er seinen Mut, trotz einer Morddrohung laut und kämpferisch zu bleiben und weiterhin für Gerechtigkeit einzustehen? Das Buch «Hauskonzert» ist ein wunderbar geschriebenes, collagenartiges Porträt über einen Menschen, der sein Herz auf der Zunge trägt.

Mein Prädikat: absolut lesenswert.

Bibliografie: Hauskonzert, Igor Levit und Florian Zinnecker, Hanser, 304 Seiten, ca. 27.40 Fr.

Regelmässig gibt es werktags um 11:30 Uhr und manchmal auch erst um 12 Uhr bei «blue News» die Kolumne am Mittag – sie dreht sich um bekannte Persönlichkeiten, mitunter auch um unbekannte – und manchmal wird sich auch ein Sternchen finden.

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