Julien Wanders Der Schweizer Wunderläufer

Von Elisabeth Real, Iten (Kenia)

28.3.2021

«Wenn ich laufe, fühle ich mich stark und gleichzeitig entspannt. Ich fühle mich grossartig danach, auch wenn der ganze Körper schmerzt»: Julien Wanders.
«Wenn ich laufe, fühle ich mich stark und gleichzeitig entspannt. Ich fühle mich grossartig danach, auch wenn der ganze Körper schmerzt»: Julien Wanders.
Bild: Elisabeth Real

Der Schweizer Langstreckenläufer Julien Wanders lebt und trainiert seit sieben Jahren in Kenia. Sein Ziel: Er will der schnellste Marathonläufer der Welt werden. Ein Besuch vor Ort. 

Von Elisabeth Real, Iten (Kenia)

28.3.2021

Es ist halb neun an einem Mittwochmorgen im Februar. Julien Wanders  brettert mit 140 Stundenkilometern über die Landstrasse von Eldoret nach Iten. Es läuft ziemlich laut ein Hip-Hop-Stück mit dem Titel «I'm the boss».

Hinten im Auto sitzen seine Trainingspartner und unterhalten sich fröhlich, scrollen auf ihren Handys, die Stimmung ist entspannt. Wanders ruft von unterwegs seine Freundin Kolly an: «Wir sind fertig mit dem Bahntraining, wir kommen jetzt zum Frühstück!»

Wanders, der 25-jährige Genfer Langstreckenläufer und europäische Rekordhalter im Halbmarathon (59:13 Minuten) und über 10 Kilometer (27:13), hat viel dafür investiert, um seinen Alltag in Kenia mit dieser Selbstverständlichkeit leben zu können.

Zur Autorin: Elisabeth Real
ZURICH SWITZERLAND - DECEMBER 8, 2020. Philippe Block, member of the board of LafargeHolcim. CREDIT: ELISABETH REAL
Bild: zVg

Elisabeth Real ist Schweizer Freelance-Fotografin und Autorin und lebt auf Madagaskar. Sie arbeitet vorwiegend in Afrika für internationale Redaktionen und Firmen und verfolgt daneben langfristige journalistische Projekte. Reals erstes Buch Army of One  erschien 2013 und untersucht das Leben US-amerikanischer Veteranen nach Irak. Seit 2012 arbeitet sie am Lesbian Lives Project, einer Buchserie über lesbische Frauen. Mit Julien Wanders steht sie seit zwei Jahren in Kontakt und begleitet ihn fotografisch, in Kenia und in der Schweiz.

Und ohne die Freundschaft seiner kenianischen Laufkollegen, mit denen er täglich zweimal zusammen trainiert – ohne seine «Familie», wie er sie nennt – wäre er nicht der geworden, der er heute ist.

Seit nunmehr sieben Jahren wohnt Wanders auf 2400 Metern Höhe in Iten, einer Kleinstadt, einem Läufermekka in der Rift-Valley-Provinz. «Schon als ich noch vor der Matur zum ersten Mal von Iten hörte, wusste ich sofort, dass ich hier leben will», sagt er.

Auf Wunsch des damaligen Trainers und seiner Eltern begann er ein Wirtschaftsstudium in Genf, schmiss es jedoch nach zwei Wochen wieder hin. «Ich interessiere mich null für Wirtschaft! Es war lediglich der Kurs mit den wenigsten Lektionen, und ich dachte, ich hätte daneben noch viel Zeit zum Trainieren. In meinem Herzen war mir schon damals klar, dass ich professioneller Athlet werden will.»

Die Eltern krank vor Sorge

Bénédicte Moreau Wanders, Juliens Mutter, ist gerade zu Besuch in Iten. Sie betrachtet ihren Sohn meistens mit einer Mischung aus Stolz und Besorgnis, begleitet jede seiner Trainingseinheiten, nimmt Hunderte von Fotos und Videos auf, lächelt dabei die ganze Zeit selig und geniesst jede Minute an seiner Seite.

«Ich merke, wie ich kontinuierlich schneller werde, und das ist ein befriedigendes Gefühl»: Julien Wanders während eines nachmittäglichen Trainingslaufes.
«Ich merke, wie ich kontinuierlich schneller werde, und das ist ein befriedigendes Gefühl»: Julien Wanders während eines nachmittäglichen Trainingslaufes.
Bild: Elisabeth Real

Bevor Bénédicte jedoch von Juliens Anfängen in Kenia erzählen kann, schlägt sie die Hände vors Gesicht und weint ein bisschen. «Er war erst 18, und wir Eltern waren krank vor Sorge: Für uns war Kenia am Ende der Welt. Wir konnten uns überhaupt nichts darunter vorstellen. Unsere Bedingung für diese erste Reise war, dass ihn in Nairobi am Flughafen ein Taxi abholt, und er sich in Iten zumindest für die ersten zwei Wochen ein Hotelzimmer bucht. Als er nach zwei Monaten nach Genf zurückkehrte, war er drei Kilo leichter, er hatte eine Kopfverletzung, und körperlich war er komplett fertig: Er hatte sich in Iten mit seinem Training sehr übernommen. Aber er liebte den Aufenthalt und wollte so schnell wie möglich zurückkehren.»

Zwei Jahre lang pendelte Wanders zwischen Genf und Iten hin und her, und nachdem seine Eltern ihn in Kenia besucht hatten und sahen, dass er umgeben war von Menschen, mit denen er sich wohlfühlt, entspannten sie sich. «Er wollte dieses Leben so sehr ... und wenn dein Kind so eine Leidenschaft hat, musst du es seinen Weg gehen lassen, auch wenn er steinig ist.»

«Ich war oft wütend und enttäuscht»

In der Schweiz war Julien Wanders ein Aussenseiter. «Ich war oft wütend und enttäuscht. Ich hatte den Eindruck, dass meine damaligen Kollegen die Leichtathletik nicht wirklich ernst nahmen. Für sie war es ein Hobby, ein Ausgleich zur Schule, und für mich war es ein Lebensinhalt. Irgendwann redete ich nicht mehr mit anderen. Ich trainierte ununterbrochen. Ich lachte selten. Ich hörte auf zu essen, um leichter und schneller zu werden. Es war extrem, und ich fühlte mich sehr einsam.»

Julien Wanders mit seiner Mutter Bénédicte Moreau Wanders, die ihn während eines Trainings begleitet. Links und rechts von den beiden stehen Wanders’ Kollegen Amos Kimutai und Aras Kaya, der für die Türkei rennt.
Julien Wanders mit seiner Mutter Bénédicte Moreau Wanders, die ihn während eines Trainings begleitet. Links und rechts von den beiden stehen Wanders’ Kollegen Amos Kimutai und Aras Kaya, der für die Türkei rennt.
Bild: Elisabeth Real

In Iten hat Wanders gelernt, diese intensiven Gefühle in gesündere, produktive Bahnen zu lenken, und, vielleicht das Wichtigste: Er hat Gleichgesinnte gefunden, die seine Leidenschaft für die Leichtathletik teilen.

«Meine kenianischen Freunde haben dieselbe Einstellung wie ich, und Kolly unterstützt mich emotional. Für mich ist alles hier perfekt, und ich kann mir momentan nicht vorstellen, an einem anderen Ort zu leben.»

Wanders' Freundin Joan Jepkorir Kiprop, die von allen «Kolly» genannt wird, ist in Iten aufgewachsen und hat mit heute weltbekannten Athleten zusammen die Schulbank gedrückt. Sie ist Englischlehrerin und managt daneben das Midland Café, in dem Juliens Gruppe sich nach jedem harten Work-out zum Frühstück trifft.

Spaghetti und Gruyère

Wenn Wanders in die Schweiz zurückkehrt, verdrückt er immer als Erstes einen Teller Spaghetti «mit richtigem Käse drauf, Gruyère!». Ebenso freut er sich, seine Eltern und seine zwei älteren Schwestern zu sehen und mit ihnen auswärts essen zu gehen. Doch abgesehen von diesen kulinarischen Freuden hat Wanders keine einfache Beziehung zur Schweiz: Kehrt er in die alte Heimat zurück, fühlt er sich gestresster als in Iten.

Einmal im Land, muss er Pflichttermine wahrnehmen, und die Wege zur Massage und Physiotherapie sind weiter als in Iten. Es kostet ihn Energie, nicht in seinem gewohnten Umfeld sein zu können.

«Julien und ich sind ja eigentlich Konkurrenten, doch in Wahrheit ist er mein Vorbild»: Trainingskollege Amanal Petros über Julien Wanders.
«Julien und ich sind ja eigentlich Konkurrenten, doch in Wahrheit ist er mein Vorbild»: Trainingskollege Amanal Petros über Julien Wanders.
Bild: Elisabeth Real

«Was mir auch auffällt, ist, dass ich mich nach einer Weile in der Schweiz weniger selbstbewusst fühle als hier in Kenia. Ich kann gar nicht genau sagen, woran es liegt, aber ich zweifle mehr an mir selbst, wenn ich in Genf bin. Ich habe Mühe mit den vielen Regeln, die in den Köpfen der Menschen herrschen, und unbewusst fangen diese an, mich zu beeinflussen. Man ist ängstlich und so verdammt vernünftig in der Schweiz. Wer bestimmt denn aber überhaupt, was machbar ist und was nicht? Ich möchte die Grenzen meiner Vorstellung sprengen, meinen eigenen Weg pfaden, mir Dinge ausmalen, die unmöglich scheinen ... und frei sein.»

Keinen Plan B

Diesen Grenzen begegnet man in Iten auf Schritt und Tritt. Viele europäische Läuferinnen und Läufer kommen hierher, um sich auf ein Rennen vorzubereiten oder sich in Form zu bringen. Oft bitten sie Julien um ein Selfie, wenn sie ihn unterwegs antreffen. Keiner von ihnen ist jedoch bereit, den Schritt zu wagen, den Wanders unternommen hat.

«Nach Kenia zu ziehen, das muss man sich erst mal trauen», sagt Hendrik Pfeiffer, ein professioneller Läufer aus Deutschland, der für ein paar Wochen in Iten weilt, um den europäischen Corona-Winter zu meiden, und nebenher im 17. Semester Journalismus studiert.

«Konsequent 100 Prozent alles auf eine Karte zu setzen, das ist mutig, und in dieser fremden Kultur zu leben! Klar, das Studium nervt, wenn man eigentlich im Sport Vollgas geben will, aber trotzdem muss man einen Plan B haben. Unter Umständen kann eine Laufkarriere schiefgehen, und dann sitzt du da mit 35, hast 20'000 Euro auf dem Sparkonto, und das war es.»

Bénédicte Moreau Wanders, ihr Sohn Julien und seine Freundin Kolly an einer Geburtstagsparty. Sie werden von Bénédictes Freund Michel Maillard fotografiert.
Bénédicte Moreau Wanders, ihr Sohn Julien und seine Freundin Kolly an einer Geburtstagsparty. Sie werden von Bénédictes Freund Michel Maillard fotografiert.
Bild: Elisabeth Real

Wanders hat keinen Plan B. Er will der schnellste Marathonläufer der Welt werden und verfolgt dieses Ziel mit einer Unerbittlichkeit und einer Reife, die selten ist für Männer seines Alters.

Er ist introvertiert und sensibel und macht oft den Eindruck, als ob er möglichst wenig Energie durch unnötige menschliche Interaktion verlieren möchte. Mit Dingen, die ihn nichts angehen, gibt er sich nicht ab; er konzentriert sich auf das für ihn Wesentliche und ruht in sich selbst.

«Wenn ich laufe, fühle ich mich stark»

Warum aber rennt Julien denn eigentlich so gern und so oft? «Das Laufen gibt mir unglaublich viel», erklärt er.

«Wenn ich im Training richtig investiere, ernte ich Erfolge. Ich merke, wie ich kontinuierlich schneller werde, und das ist ein befriedigendes Gefühl. Zweitens mag ich es sehr, das Leben eines Athleten zu führen: Dank der Disziplin, die der Sport fordert, spüre ich einen inneren Frieden. Und drittens, ganz konkret: Wenn ich laufe, fühle ich mich stark und gleichzeitig entspannt. Ich fühle mich grossartig danach, auch wenn der ganze Körper schmerzt.»

«Ich hatte den Eindruck, dass meine damaligen Kollegen die Leichtathletik nicht wirklich ernst nahmen. Für sie war es ein Hobby, ein Ausgleich zur Schule, und für mich war es ein Lebensinhalt»: Julien Wanders.
«Ich hatte den Eindruck, dass meine damaligen Kollegen die Leichtathletik nicht wirklich ernst nahmen. Für sie war es ein Hobby, ein Ausgleich zur Schule, und für mich war es ein Lebensinhalt»: Julien Wanders.
Bild: Elisabeth Real

Amanal Petros ist in Eritrea geboren und läuft für Deutschland. Im Dezember knackte er in Valencia in einem fantastischen 2:07-Marathon den Landesrekord. Er kennt Julien seit Teenagertagen, und seit einigen Monaten trainieren sie gemeinsam in Iten.

«In Kenia gehen die Leute viel mehr an die Grenzen im Training als in Europa, davon profitieren wir beide enorm. In Deutschland oder in der Schweiz fangen meine Kollegen an zu meckern, wenn ich mal zwei Sekunden pro Kilometer zu schnell laufe, weil das ja so nicht auf dem Trainingsplan steht. Sie sind eher konservativ im Geist. In Kenia lachen wir nur darüber. Julien und ich sind ja eigentlich Konkurrenten, doch in Wahrheit ist er mein Vorbild.»

«Julien ist unser Bruder, keine Frage»

Wenn die beiden Kenianer Boniface Kibiwott und Mathew Kibarus über Wanders sprechen, ist ihre Ehrfurcht für ihn spürbar. «Julien ist unser Bruder, keine Frage», sagen sie sofort. Dann überlegen sie eine Weile und fügen lachend an: «Eigentlich ist er mehr als das, denn nicht mal unsere leiblichen Brüder setzen sich für uns in dem Masse ein, wie Julien es tut.»

Wanders bezahlt nicht nur den Transport für die Gruppentrainings, sondern hilft seinen Kollegen auch in Managementfragen und unterstützt sie in Engpässen finanziell. «Juliens Einstellung ist topseriös. Er geht das Training professionell an: Wir verdanken ihm alles.»

Nach einem Bahntraining in Eldoret albern Amanal Petros (links), Enock Kipchumba (Mitte) und Julien Wanders noch etwas herum. Kipchumba ist der kleinste der Gruppe und wird wegen seiner Körpergrösse oft hochgenommen.
Nach einem Bahntraining in Eldoret albern Amanal Petros (links), Enock Kipchumba (Mitte) und Julien Wanders noch etwas herum. Kipchumba ist der kleinste der Gruppe und wird wegen seiner Körpergrösse oft hochgenommen.
Bild: Elisabeth Real

An diesem Mittwochmorgen sitzt Wanders umringt von seiner kenianischen Armada im Café, trinkt süssen Schwarztee mit Milch und isst Chapati, warme Fladenbrote. Seine Augen sind glasig vor Müdigkeit. Er trägt eine schwarze Daunenjacke, die ihn umhüllt wie ein Schlafsack. Auf dem Handy schaut er sich Videos vom soeben absolvierten Bahntraining an.

Irgendwann steht er auf und geht zur Theke, um das Frühstück für die Truppe zu bezahlen. Beim Vorbeigehen streicht er einem seiner Kollegen liebevoll über den Hinterkopf. Die Männer haben eine Vertrautheit miteinander, die entsteht, wenn Menschen tausende von Stunden zusammen verbringen und am selben Strick ziehen.

Dann geht Julien Wanders nach Hause, legt sich hin, isst später mit seiner Freundin Kolly zu Mittag, macht nochmals ein Nickerchen und zieht sich danach fürs Nachmittagstraining um. Morgen wird er genau dasselbe tun. Und am Tag darauf auch. Um sich für die Olympischen Spiele und seinen ersten Marathon vorzubereiten, läuft er pro Woche im Schnitt 200 Kilometer. Und lacht wieder. Recht oft sogar.